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Autarkie und autoritäre Drift

Autarkie kippt ins Totalitäre, wo sie sich verabsolutiert, Exit-Optionen verstopft und jede Relativierung verliert. Indigene, Klöster, Taoismus zeigen Gegenwege: kosmologische Einbettung statt Souveränitätswahn, rhythmische Öffnung statt Grenzfixierung, Sollbruchstellen im System. Geschlossene Gemeinschaften brauchen Porosität – durch Handel, Transzendenz, Diskurs oder prozesshafte Selbstauflösung.

: Eine Genealogie geschlossener Systeme

Die These, autarke Projekte tendierten zum Totalitarismus, ist zu pauschal formuliert, trifft aber einen neuralgischen Punkt – Selbstgenügsamkeitsbestrebungen bergen autoritäre Versuchungen, wenn auch keine Zwangsläufigkeit. Der Mechanismus entfaltet sich entlang einer inneren Logik: Wer ökonomische oder soziale Autarkie anstrebt, muss Außengrenzen kontrollieren – was hinein darf, was hinaus, wer bleibt, wer geht. Das erzeugt unweigerlich einen Kontrollapparat. Dazu kommt der Systemimperativ geschlossener Gemeinschaften: Sie brauchen interne Kohärenz, eine Form kollektiver Disziplin, damit knappe Ressourcen nicht durch Trittbrettfahrer verschwendet werden. Sobald die Gruppe definiert, was solidarisches Verhalten bedeutet und wer sich dem zu fügen hat, entsteht normativer Druck, der leicht in Konformitätszwang kippen kann.

Historisch zeigt sich das Muster von sektiererischen Kommunen bis zu national-isolationistischen Regimes – die Autarkielogik begünstigt Geschlossenheit, misstraut dem Austausch, fürchtet Infiltration von außen. Das mündet in Überwachung, ideologische Homogenisierung, Fremdheitsdämonisierung. Allerdings: Nicht jede Kommune endet im Gulag. Kleine selbstversorgende Gemeinschaften mit funktionierender Exit-Option, klaren demokratischen Strukturen und durchlässigen Grenzen widerlegen die These empirisch. Der entscheidende Unterschied liegt in der Freiwilligkeit des Austritts, der Pluralität interner Meinungen und der Frage, ob Autarkie als pragmatische Strategie oder als identitäre Mission verstanden wird.

Totalitarismus entsteht dort, wo Selbstgenügsamkeit zum Selbstzweck mutiert, wo die Reinerhaltung des Systems wichtiger wird als das Wohlergehen der Menschen darin. Die Gefahr wächst mit der Größe des autarken Gebildes und seiner identitären Selbstverabsolutierung – ein souveränistischer Nationalstaat rutscht schneller ab als eine Dorfkooperative mit Marktzugang.

Indigene Gemeinschaften: Autarkie ohne Totalanspruch

Indigene Gesellschaften komplizieren die These radikal, weil sie über Jahrhunderte – teils Jahrtausende – autark funktionierten, ohne ins Totalitäre zu driften. Die Iroquois-Konföderation, diverse Pueblovölker, pazifische Inselgesellschaften, australische Aborigines lebten weitgehend selbstgenügsam, entwickelten dabei aber Machtbegrenzungsmechanismen, die westliche Demokratietheorie erst spät entdeckte. Der Unterschied liegt in der kosmologischen Einbettung: Wo europäische Kommunen sich als autonome Subjekte setzen, die ihre Grenzen aktiv ziehen, verstanden viele indigene Gemeinschaften sich als Teil eines größeren Lebensnetzes, das sie durchquert, überschreitet, relativiert.

Die Potlatch-Praxis an der nordwestpazifischen Küste zeigt das exemplarisch – ein System zeremoniegebundener Reziprozität, das Akkumulation in Beziehung transformiert, Status durch Großzügigkeit definiert, dauerhaften Austausch zwischen Clans strukturiert. Wie Robin Wall Kimmerer deutlich macht, ging es nie um sinnlose Verschwendung, wie frühe Ethnologen behaupteten, sondern um die Zirkulation von Fülle, die Anerkennung wechselseitiger Verpflichtung, das Weben sozialer Netze durch materielle Geste. Die Kwakwaka’wakw, Tlingit, Haida produzierten Überschüsse gezielt für diese Zeremonien – Decken, Kupferplatten, geschnitzte Kästen –, weil der Potlatch wirtschaftliche Autarkie mit politischer Vernetzung verband. Man lebte selbstgenügsam innerhalb der eigenen Bucht, des eigenen Flusssystems, blieb aber durch rhythmische Gabenfeste mit Nachbargruppen verflochten. Das unterbindet jene Grenzfixierung, die autoritäre Strukturen nährt.

Ähnlich funktionierten Heiratssysteme mit exogamen Regeln – die eigene Gruppe bleibt wirtschaftlich autark, muss sich aber genealogisch öffnen, was dauerhaften Kontakt, Verhandlung, wechselseitige Abhängigkeit schafft. Der Potlatch verankerte diese Verbindungen materiell: Heiraten wurden durch Gabenaustausch besiegelt, der über Jahre, Generationen hinweg erweitert werden musste. Jede Gabe rief nach Erwiderung, jede Erwiderung nach Steigerung – ein perpetuierter Kreislauf, der Isolation verunmöglichte.

Entscheidend wirkt die Abwesenheit des Souveränitätsgedankens. Viele indigene Rechtssysteme kennen keine absolute Autorität, sondern verschachtelte Verantwortlichkeiten – der Häuptling repräsentiert, entscheidet aber im Konsens mit Ältestenräten, Clan-Müttern, rituellen Spezialisten. Macht diffundiert durch zeremonielle Verpflichtungen, spirituelle Hierarchien, verwandtschaftliche Netzwerke. Was wie totale Regelung aussieht – jede Handlung kosmologisch codiert –, erweist sich als Machtverteilung durch Ritualvielheit. Kein einzelner Akteur kontrolliert den Interpretationszugang zum Heiligen.

Allerdings romantisiert das Bild leicht. Auch indigene Gemeinschaften kannten Ausschluss, Zwang, gelegentlich brutale Sanktionen gegen Normbrecher. Der Unterschied zu totalitären Projekten liegt eher in der Skalierung und der kosmischen Rückbindung – Gewalt bleibt episodisch, zielt auf Wiederherstellung des Gleichgewichts, überschreitet selten in systematische Kontrolle. Wo westliche Autarkieprojekte den Menschen umbauen wollen, arrangierten sich viele indigene Systeme mit menschlicher Variabilität, integrierten sie ins rituelle Gefüge.

Basisdemokratie und Genossenschaft: Das Partizipationsparadox

Basisdemokratie und genossenschaftliche Organisationsformen werden gern als Antidote gegen autoritäre Drift verkauft – die Idee: wenn alle mitentscheiden, kippt nichts ins Tyrannische. Das stimmt teilweise, greift aber zu kurz. Das Problem beginnt dort, wo partizipative Strukturen auf geschlossene Systeme treffen. Eine Genossenschaft, die ökonomische Autarkie anstrebt, muss irgendwann darüber befinden, wer Zugang zu den kollektiven Ressourcen hat, wer Mitspracherecht verdient, wer ausgeschlossen bleibt. Die basisdemokratische Versammlung mutiert dann zum Tribunal – weniger aus böser Absicht, eher durch Systemlogik. Wenn das Überleben der Kommune vom Konsens abhängt, wird abweichende Meinung schnell zur existenziellen Bedrohung.

Genossenschaften tragen einen interessanten Doppelcharakter: Sie demokratisieren Eigentum und Entscheidungsprozesse, schaffen aber zugleich eine Innen-Außen-Grenze mit klaren Zugehörigkeitskriterien. Wer drin ist, darf mitbestimmen; wer draußen bleibt, hat Pech. Das bleibt zunächst legitim, wird aber prekär, sobald die Genossenschaft expandiert oder lebensweltlich totalgreifend wird – etwa wenn sie über Arbeit hinaus auch Wohnen, Bildung, soziale Beziehungen organisiert. Diese Sphärentotalität erzeugt neue Abhängigkeiten.

Indigene Ratsysteme zeigen hier einen alternativen Pfad: Die Haudenosaunee-Konföderation koppelte Entscheidungsgewalt an komplexe Konsultationspflichten zwischen Clans, Geschlechtern, Altersgruppen. Beschlüsse brauchten gestaffelte Zustimmung – erst die Clan-Mütter, dann die Kriegshäuptlinge, schließlich die Friedenshäuptlinge. Das verlangsamte Prozesse radikal, verhinderte aber Mehrheitsdiktate. Dissens wurde strukturell ermöglicht durch das Prinzip der geteilten Souveränität – keine Instanz konnte allein durchregieren. Westliche Basisdemokratie tendiert dagegen zur Beschleunigung, zur Akklamationslogik, die Widerspruch als Blockade delegitimiert.

Basisdemokratie verschärft paradoxerweise das Konformitätsproblem. Während repräsentative Demokratie Dissens institutionalisiert durch Minderheitenrechte, Opposition, Gewaltenteilung, tendiert das permanente Plenum zur moralischen Totalisierung: Wer gegen den Mehrheitsbeschluss votiert, sabotiert den kollektiven Willen. Die Tyrannei der Gruppe kann brutaler ausfallen als die eines Chefs – diffuser, schwerer greifbar, emotional aufgeladen durch den Verrat am gemeinsamen Projekt. Diese Konsensgewalt operiert subtiler als offene Repression.

Entscheidend bleibt die Exit-Option. Solange Ausscheren möglich ist, ohne existenziell abzustürzen, bleibt der demokratische Modus erträglich. Sobald die autarke Genossenschaft zum alternativlosen Lebensrahmen wird – ökonomisch, sozial, geografisch –, schrumpft die Freiheit zur formalen Geste. Man stimmt ab, klar, aber wer riskiert schon Ausschluss, wenn draußen nichts wartet?

Viele indigene Gesellschaften kannten faktisch begrenzte Exit-Optionen – die Landschaft bot selten Alternativen, andere Gruppen blieben fern oder feindlich. Trotzdem entwickelten sie Ventile: saisonale Trennungen, bei denen Familienverbände auseinanderzogen; rituelle Inversionen wie Clown-Zeremonien, die Hierarchien zeitweise aufhoben; Adoptionspraktiken, die Fremde integrierten und damit frisches Denken einschleusten. Autarkie wurde erträglich durch rhythmische Öffnung, ohne permanenten Austritt vorauszusetzen.

Das Kloster St. Gallen: Autarkie mit Fluchtlinien

Das Kloster St. Gallen liefert ein faszinierendes Gegenbeispiel – eine autarke Lebensgemeinschaft, die über Jahrhunderte funktionierte, ohne in offenen Terror zu kippen, obwohl alle Zutaten für totalitäre Drift vorhanden waren: geschlossene Ökonomie, strikte Regel, Austrittsverbot bei ewigen Gelübden, totale Lebensreglementation.

Der Trick lag in der doppelten Öffnung. Nach außen blieb St. Gallen handelnd, kopierend, gastgebend – die Skriptorien produzierten für fremde Auftraggeber, die Bibliothek sammelte häretische wie orthodoxe Texte, durchreisende Gelehrte brachten Unruhe herein. Autarkie wurde angestrebt, aber pragmatisch durchbrochen, sobald sie ineffizient wurde. Das verhinderte jene Inselbesessenheit, die aus Selbstgenügsamkeit Selbstvergottung macht. Diese Öffnungsrhythmik hielt das System atmungsfähig.

Nach innen federte die Benediktsregel durch ihre Bürokratisierung des Charisma ab. Statt auf permanente Versammlung setzte sie auf klare Hierarchie mit liturgisch getakteten Entscheidungsabläufen. Der Abt herrschte, musste aber den Konvent anhören; die Regel galt absolut, ließ aber Interpretationsspielraum zu. Diese strukturierte Unfreiheit erzeugte paradoxerweise Stabilität – jeder wusste, woran er war, Willkür wurde durch Gewohnheitsrecht gebändigt.

Hier zeigt sich eine Parallele zu indigenen Häuptlingstümern: Auch dort band rituelles Protokoll die Macht, ohne sie zu annullieren. Ein Pueblo-Kazike traf Entscheidungen, musste aber bei jeder wichtigen Wahl die Kiva-Gesellschaften konsultieren, deren esoterisches Wissen seine Legitimität erst konstituierte. Die Macht floss durch zeremonielle Kanäle, die älter waren als jeder Amtsinhaber. Im Kloster übernahm die Regel diese Funktion – ein Text, älter und größer als die Gemeinschaft, der dem Abt Autorität verlieh und zugleich begrenzte.

Entscheidend wirkte die metaphysische Fluchtlinie. Die monastische Gemeinschaft verstand sich als Durchgangsstation, nie als Endzweck. Das eigentliche Ziel lag jenseits der Klostermauern, im Eschaton. Diese Transzendenzausrichtung relativierte die innerweltliche Autarkie – sie durfte nicht zum Idol werden, blieb bloßes Mittel zur contemplatio. Sobald eine Kommune sich selbst zum höchsten Gut erklärt, fehlt diese destabilisierende Relativierung.

Indigene Kosmologien leisteten Vergleichbares anders: Statt linearer Transzendenz zyklische Einbettung. Die Navajo-Vorstellung von hózhǫ́ – meist unzureichend als „Harmonie“ übersetzt – meint eine kosmische Ordnung, die die menschliche Gemeinschaft überschreitet, durchdringt, relativiert. Autarkie konnte nie absolut werden, weil sie ständig mit nicht-menschlichen Akteuren – Tieren, Landschaftsgeistern, Ahnen – verhandelt werden musste.

Die Aborigines gehen noch weiter: Ihre Tjukurpa (Traumzeit) löst die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf, zwischen Land und Menschen, zwischen Schöpfung und Erhaltung. Das Land ist keine Ressource, sondern Verwandter, Vorfahre, Gesetzgeber. Autarkie wird unmöglich als Besitzanspruch – man kann sich vom Land so wenig trennen wie von der eigenen Genealogie. Die Songlines verbinden räumlich getrennte Gruppen durch mythologische Wege, schaffen ein Netz wechselseitiger Verpflichtungen ohne zentrale Autorität. Jede Gruppe hütet ihre Landparzellen, ihre Lieder, ihre Zeremonien – hochgradig eigenständig, aber eingebettet in ein kontinentales Gewebe von Austausch und ritueller Reziprozität. Die Gemeinschaft blieb porös nach oben, unten, seitwärts.

Trotzdem: Auch St. Gallen kannte Gewalt, Disziplinierung, erzwungene Konformität. Die Regel sah Prügelstrafe vor, Isolation, rituelle Demütigung. Der Unterschied zu totalitären Projekten lag weniger in der Abwesenheit von Zwang als in dessen liturgischer Einhegung – Gewalt blieb rückgebunden an ein Regelwerk, das älter war als jeder lebende Machthaber, größer als die Gemeinschaft selbst.

Foucault und die Produktivität klösterlicher Macht

Foucault würde am Kloster St. Gallen vermutlich die Produktivität der Macht bewundern – wie die Regel den Körper des Mönchs zum Arbeitsinstrument formt, ihn durch Stundengebet, Schweigegebote, räumliche Anordnung in ein nützliches Subjekt verwandelt. Die Klostermauern funktionieren wie das Panopticon: Der Blick Gottes ersetzt den wachhabenden Aufseher, internalisiert die Überwachung bis ins Gewissen. Totale Sichtbarkeit vor dem allwissenden Richter erzeugt Selbstdisziplin ohne permanenten Zwangsapparat.

Das monastische Strafregister zeigt Foucaults Verschiebung vom Souveränitätsmodell zur Disziplinartechnik. Keine spektakuläre Hinrichtung, sondern mikrologische Korrektur – der Mönch wird weniger vernichtet als adjustiert. Fasten, Schweigen, Isolierung normalisieren durch Wiederholung. Die Strafe zielt auf Reintegration, schafft den gehorsamen Körper als pastoralen Mehrwert.

Hier kompliziert sich die Autarkie-These. Foucaults Disziplinargesellschaft braucht gerade keine geschlossenen Systeme – sie funktioniert durch Zirkulation. Gefängnisse, Kasernen, Schulen, Fabriken tauschen Techniken aus, Subjekte wandern zwischen Institutionen, werden nirgendwo festgehalten, überall formatiert. Die Macht wird produktiv durch Durchlässigkeit, durch ihr Zirkulationsprinzip.

Autarke Kommunen hingegen unterbrechen diese Zirkulation, wollen den formatierten Menschen behalten, ihn der Verwertungslogik entziehen. Das erklärt vielleicht ihre autoritäre Anfälligkeit anders: Sie versuchen Disziplinierung ohne gesellschaftliche Einbettung, müssen die Machttechniken intern nachbauen, die draußen diffus verteilt sind. Die Konzentration erzeugt Intensität – was in der Gesellschaft als sanfter Dauerdruck läuft, wird im autarken Projekt zum sichtbaren Regime. Diese Machtballungen schaffen Transparenz durch Verdichtung.

Indigene Gesellschaften bieten hier ein Gegenmodell: Ihre Machttechniken zirkulierten ebenfalls, aber anders – zwischen Generationen statt Institutionen, durch Initiation statt Dressur, via mythologischer Transmission statt bürokratischer Archive. Ein Hopi-Junge durchlief verschiedene Kiva-Gesellschaften, lernte dort je spezifische Körpertechniken, kosmologische Codes, rituelle Fertigkeiten. Die Macht formatierte, aber entlang spiritueller Entwicklungslinien, die Varianz verlangten – jede Kiva hütete eigenes Wissen, Macht fragmentierte sich in esoterische Spezialisierungen.

Foucaults Pastoralmacht passt bestens aufs Kloster: individuelle Seelenführung trifft auf Herdenverwaltung. Der Abt kennt jeden Mönch, formt ihn einzeln, hält aber die Gemeinschaft zusammen. Diese doppelte Adressierung – als Individuum wie als Glied – schafft ein Machtgeflecht, das tiefer greift als bloßer Befehl.

Doch wo christliche Pastoralmacht auf Geständnis, Beichte, Gewissenserforschung setzte – also auf Verinnerlichung, Selbstoffenbarung, psychische Transparenz –, operierten viele indigene Systeme umgekehrt: durch Verschleierung, rituelle Geheimhaltung, kontrollierte Undurchsichtigkeit. Macht funktionierte über das Vorenthalten von Wissen, das Dosieren von Einweihung. Ein Navajo-Sänger behielt seine Zeremonialgesänge für sich, gab sie nur an ausgewählte Schüler weiter – Macht durch epistemische Knappheit statt bekenntnisförmiger Abundanz. Das produzierte andere Subjekte: Wo das Kloster den durchsichtigen, geständigen Mönch formte, schufen indigene Initiationssysteme den verschlossenen, wissenden Spezialisten.

Kant, Platon, Nietzsche, Camus: Vier Blicke auf die geschlossene Polis

Stellt man sich die vier am runden Tisch vor, würde Kant vermutlich zuerst das kategorische Moment herausarbeiten: Autarkie wird moralisch bedenklich, wo sie den Menschen zum Mittel degradiert – zum Produktionsfaktor der Gemeinschaft, zur Funktion im geschlossenen Kreislauf. Der Königsberger besteht darauf, dass jede Gemeinschaft am Maßstab der praktischen Vernunft zu messen sei: Kann die autarke Regel zum allgemeinen Gesetz taugen? Sobald die Exit-Option verschwindet, scheitert der Test – ein System, das Austritt verunmöglicht, behandelt seine Mitglieder als Besitz, verletzt die Würde der Person. Kant würde dem Kloster St. Gallen interessiert begegnen, die ewigen Gelübde problematisieren, zugleich die Freiwilligkeit des Eintritts würdigen. Bei indigenen Systemen stockt er vielleicht – die kosmologische Relativierung durch nicht-menschliche Akteure passt schlecht in seine anthropozentrische Architektur der Autonomie.

Platon lächelt milde, sieht seine Politeia bestätigt: Autarkie war immer das Ziel der idealen Polis, Selbstgenügsamkeit die Bedingung von Gerechtigkeit. Wo die Stadt alles Nötige selbst hervorbringt, braucht sie weder Handel noch Krieg – die Seele des Gemeinwesens erreicht ihre eudaimonia. Dass geschlossene Systeme zur Tyrannei neigen? Gewiss, das passiert, wenn die philosophoi nicht regieren, wenn die Wächter degenerieren, wenn die timokratische Ordnung kippt. Aber das Problem liegt für ihn in der falschen Besetzung der Ämter, in der Unbildung der Herrschenden – die Autarkie selbst bleibt unschuldig. Diese Herrschaftsentlastung des Systems übersieht die strukturelle Dynamik. Kant unterbricht höflich: Aber wer bestimmt, wer zum Philosophenherrschen taugt? Platon verweist auf die Dialektik, auf jahrzehntelange Bildung – Kant seufzt, sieht darin gerade die Gefahr: Die Weisen könnten sich irren, die Gebildeten zum Kasten werden, die Ordnung zur Fessel gerinnen.

Nietzsche wirft ein, dass sie beide das Entscheidende übersehen: Autarkie ist Ressentiment-Architektur. Die geschlossene Kommune entsteht aus Schwäche, aus der Unfähigkeit, im großen Spiel mitzuhalten – man zieht sich zurück, erklärt die eigene Enge zur Tugend, das Außen zur Verderbnis. Die Genealogie der Autarkie deckt priesterliche Moral auf: Man kann die Welt nicht gestalten, also verflucht man sie, baut sich ein Reservat der vermeintlich Reinen. Indigene Potlatch-Ökonomien würden ihn faszinieren – hier die Verschwendung als Machtgeste, die dionysische Bejahung des Überflusses gegen asketische Akkumulation. Aber sobald diese Systeme ihre eigene Geschlossenheit sakralisieren, riecht er den Gestank der décadence. Kant runzelt die Stirn: Verschwendung als Tugend? Das widerspricht jeder Maxime vernünftigen Handelns. Nietzsche lacht: Gerade darum funktioniert es – weil es die buchhalterische Vernunft sprengt, den Nützlichkeitskalkül verhöhnt.

Camus nimmt den Ball auf: Vielleicht liegt in dieser Spannung der Punkt. Autarkie wird absurd, wo sie Sinn verspricht – wo die Kommune behauptet, die Antwort auf die Sinnfrage zu sein, die Lösung des metaphysischen Rätsels. Die totalitäre Versuchung speist sich aus dem Heilsversprechen: Hier drinnen ist Erlösung, draußen nur Leere. Camus würde dem Kloster St. Gallen seine metaphysische Fluchtlinie vorhalten – solange das Eschaton außerhalb liegt, bleibt die Kommune demütig. Sobald sie selbst zum Himmelreich wird, kippt’s. Indigene Zyklen ohne Finalität gefallen ihm besser – diese rhythmische Wiederkehr ohne Telos, diese Akzeptanz der Wiederholung. Sisyphos hätte unter Navajo gelebt, hätte hózhǫ́ verstanden als endloses Balancieren, als Aufgabe ohne Abschluss. Platon schüttelt den Kopf: Aber dann fehlt das Gute, das unveränderliche Maß. Camus zuckt die Schultern: Vielleicht brauchen wir’s gar nicht – vielleicht genügt die Revolte gegen den Totalanspruch, das Bestehen auf der Freiheit trotz Geschlossenheit.

Kant versucht zu vermitteln: Die Autonomie der Person verlangt, dass Gemeinschaft immer Mittel bleibt, nie Zweck. Autarkie darf organisieren, rationalisieren, Ressourcen schonen – sie darf die Menschen nicht verschlingen. Der kategorische Imperativ funktioniert als Brandmauer: Jede Regel der Kommune muss sich fragen lassen, ob sie universalisierbar wäre, ob sie die Menschheit in jedem Einzelnen achtet. Wo das gelingt – vielleicht in St. Gallens liturgischer Selbstbeschränkung, in den gestaffelten Konsultationen der Haudenosaunee – bleibt Autarkie human. Nietzsche grinst: Human ist Sklavenmoral, Immanuel. Was wir brauchen, ist die Kraft zur Selbstüberwindung, auch der Autarkie. Geschlossene Systeme müssen sich selbst negieren können, ihre eigene Grenze als Provokation begreifen.

Platon lenkt zurück zur Gerechtigkeit: Eine Polis, in der jeder das Seine tut, wo Produzenten produzieren, Wächter beschützen, Philosophen leiten – das ist die Form gegen den Zerfall. Autarkie stabilisiert, verhindert Exzess, Pleonexia, das gierige Mehrhabenwollen. Camus widerspricht leise: Aber diese Ordnung erstarrt, tötet das Lebendige. Die Revolte braucht Offenheit, Kontingenz, das Recht auf Widerspruch. Eine Polis ohne Risse wird zum Grab. Kant nickt: Deshalb die Öffentlichkeit, der Gebrauch der Vernunft, die Möglichkeit der Kritik. Autarke Projekte müssen debattierbar bleiben, ihre Grundsätze zur Diskussion stellen, Dissens aushalten. Nietzsche winkt ab: Diskussion ist Schwäche, Macht kennt keine Argumente. Aber vielleicht – und hier wird er nachdenklich – vielleicht liegt die Größe darin, Grenzen zu setzen, die man jederzeit überschreiten könnte. Autarkie als Selbstdisziplin des Mächtigen, als freiwillige Begrenzung aus Stärke, wie der Potlatch aus Überfluss gibt.

Die vier einigen sich auf nichts, das ist klar. Aber ein roter Faden taucht auf: Autarkie wird problematisch, wo sie alternativlos wird – wo Platon vergisst, dass auch Philosophen irren, wo Kant die Exit-Option verstopft, wo Nietzsche die Selbstüberwindung einstellt, wo Camus die Revolte verunmöglicht. Geschlossene Systeme brauchen eine Sollbruchstelle, einen Punkt, an dem sie sich selbst in Frage stellen lassen – sei es durch transzendente Relativierung, durch kosmologische Einbettung, durch pragmatischen Handel, durch institutionalisierten Dissens. Ohne diese Porosität gerinnt Selbstgenügsamkeit zur Selbstvergottung, und dann, da sind sich alle einig, wird’s gefährlich.

Wu Wei und die poröse Grenze: Taoistische Autarkie als Nicht-Projekt

Das Grundproblem westlicher Selbstgenügsamkeit

Autarkie wird im Westen als Projekt gedacht – als intentionale Setzung von Grenzen, als willentliche Abschottung, als bewusste Konstruktion von Selbständigkeit. Genau darin liegt der Keim ihrer totalitären Versuchung: Wer Autarkie macht, muss sie auch erhalten, verteidigen, durchsetzen. Die Grenze wird zur Aufgabe, ihre Aufrechterhaltung zur Obsession. Das System beginnt, sich gegen seine eigene Porosität zu wehren, identifiziert jeden Austausch als Bedrohung, jede Öffnung als Verrat am Projekt.

Die taoistische Perspektive dreht den Ansatz um: Selbstgenügsamkeit entsteht weniger durch Konstruktion als durch Rückzug aus der Konstruktion. Ziran – das Selbst-so-Sein – meint keine aktive Herstellung von Unabhängigkeit, sondern das Geschehenlassen natürlicher Vollständigkeit. Ein Tal sammelt Wasser, ohne Staudämme zu bauen. Ein Baum wächst vollständig, ohne seine Grenzen zu polizieren. Die Form ergibt sich aus dem Prozess, die Grenze aus der inneren Bewegung, die Geschlossenheit aus dem Fluss selbst.

De – die Kraft des Ungefüllten

Das zentrale Konzept ist De, meist unbeholfen als „Tugend“ übersetzt, besser verstanden als inhärente Potenz, als ungezwungene Wirksamkeit. De entfaltet sich dort, wo das System weniger nach Vollständigkeit strebt als Leere kultiviert. Das Leere zieht an, ermöglicht Füllung, schafft Raum für Wandel. Eine autarke Gemeinschaft mit De funktioniert wie ein Talkessel – sie sammelt, was zu ihr fließt, stößt ab, was nicht passt, ohne aktive Selektion zu betreiben. Die Grenze wird semipermeabel durch Nicht-Handeln, durch Wu Wei.

Wu Wei bedeutet hier: keine Autarkie durch Dekret, durch Beschluss, durch ideologische Setzung. Stattdessen organisches Zurückfallen in die eigene Maßstäblichkeit. Eine Gemeinschaft findet ihre Größe, weil mehr Menschen sie energetisch auslaugen würden. Sie findet ihre Produktionsweise, weil andere Formen den Boden erschöpften. Sie findet ihre Regelungstiefe, weil strengere Normen die Beweglichkeit töten, laxere das Gefüge auflösen. All das geschieht im Erspüren, im Tasten, im Nachjustieren – Kybernetik statt Planung, Resonanz statt Programm.

Das Paradox der Nicht-Grenze

Taoistische Autarkie kennt Grenzen, ohne sie zu verdinglichen. Die Grenze ist keine Mauer, sondern eine Intensitätsverschiebung, eine graduelle Abnahme der Bindungsenergie. Wie die Atmosphäre keinen exakten Rand hat, aber trotzdem endet, so die Gemeinschaft: Sie wird dünner nach außen, weniger dicht, weniger verbindlich, ohne je binär zwischen Innen und Außen zu schneiden. Das löst das Exit-Problem elegant – man kann sich distanzieren, ohne auszutreten, kann peripher werden, ohne zu desertieren. Die Zugehörigkeit funktioniert graduell, skaliert mit dem Engagement, atmet mit der Lebensphase. Diese Grenzdiffusion ermöglicht Beweglichkeit.

Diese Nicht-Grenze verhindert den totalitären Reflex. Wer nicht scharf zwischen Mitglied und Fremdem unterscheiden kann, kann auch keine Reinheit polizieren. Wer keine feste Außenlinie hat, braucht keine Grenzposten. Das System bleibt offen durch seine Unschärfe, autark durch seine Gravitationskraft – es hält zusammen, was zusammengehört, ohne zu klammern.

Yin-Yang und die oszillierende Selbstgenügsamkeit

Das Yin-Yang-Symbol wird meist missverstanden als statisches Gleichgewicht. Tatsächlich zeigt es Prozess – die helle Fläche trägt bereits den dunklen Keim, die dunkle die helle Möglichkeit. Übertragen auf Autarkie: Jede Phase der Geschlossenheit enthält schon die Tendenz zur Öffnung, jede Öffnungsphase den Impuls zum Rückzug. Autarkie wird rhythmisch, saisonal, zyklisch.

Eine taoistische Kommune würde bewusst Phasen einbauen – Momente intensiver Binnenorientierung (Winter, Konsolidierung, Verdichtung) und Zeiten extensiver Vernetzung (Sommer, Austausch, Potlatch-artige Verausgabung). Die Geschlossenheit bleibt temporär, die Öffnung episodisch. Keine Phase verabsolutiert sich, weil beide im größeren Rhythmus aufgehoben sind. Das verhindert jene Erstarrung, die aus dauerhafter Abschottung totalitäre Strukturen nährt.

Qi-Fluss statt Ressourcenmanagement

Westliche Autarkie denkt in Beständen – Vorräte, Kapazitäten, Eigenproduktion. Taoistische Selbstgenügsamkeit denkt in Flüssen, in Qi-Zirkulation. Qi ist Energie-Materie-Information in Bewegung, nicht zu fixieren, zu besitzen, zu horten. Eine Gemeinschaft kultiviert Qi-Ströme: Wie fließt Nahrungsenergie durch die Körper, wie wandelt sich Arbeitskraft in soziale Bindung, wie transformiert sich Wissen in Landschaftspflege?

Das verschiebt den Fokus von Autarkie als Abgeschlossenheit zu Autarkie als Kreislaufökonomie. Weniger die Unabhängigkeit vom Außen zählt als die Schließung interner Zyklen – Kompostierung statt Müllexport, Regenwassernutzung statt Fernleitungen, generationales Lernen statt Schulimport. Aber diese Zyklen bleiben offen für Impulse von außen – wie der Körper atmet, Nahrung aufnimmt, Abfallstoffe abgibt, ohne seine Selbstregulation zu verlieren.

Die Fünf Wandlungsphasen als Anti-Platonismus

Wo Platon unveränderliche Ideen setzt, arbeitet das Tao mit fünf Wandlungsphasen (wuxing): Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser. Jedes Element nährt das nächste, kontrolliert das übernächste – ein Netzwerk wechselseitiger Limitation, keine Hierarchie. Übertragen auf Gemeinschaftsorganisation: Keine finale Ordnung, keine Philosophenherrschaft, sondern rotierendes Gleichgewicht.

Eine taoistische Autarkie hätte vielleicht fünf Funktionsbereiche, die zyklisch dominieren – Produktion (Holz), Distribution (Feuer), Konsolidierung (Erde), Reflexion (Metall), Regeneration (Wasser). Jede Phase bringt eigene Entscheidungslogiken, eigene Hierarchien, eigene Werte. Das verhindert Machtmonopole – wer heute führt (Feuer-Phase), wird morgen kontrolliert (durch Metall), übermorgen genährt (durch Wasser). Die Rollen wechseln weniger durch Wahl als durch organischen Rhythmus.

Spontaneität (Ziran) vs. Souveränität

Das westliche Autarkieprojekt wurzelt im Souveränitätsgedanken – Selbstbestimmung als höchstes Gut, Autonomie als politisches Ziel. Taoismus kennt keine Souveränität, nur Ziran – das Selbst-so-Sein ohne Selbstbehauptung. Ein Stein liegt souverän? Unsinn. Er liegt, wie er liegt, reagiert auf Kräfte, verwittert, rollt – ohne Autonomieanspruch, ohne Identitätspolitik.

Gemeinschaften mit Ziran-Orientierung hören auf, sich gegen Einflüsse zu immunisieren. Sie lassen Fremdes eindringen, beobachten, wie es wirkt, ob es integrierbar bleibt oder wieder abfließt. Diese Gelassenheit – nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit – entspringt dem Vertrauen ins eigene De: Was wesensmäßig zur Gemeinschaft gehört, bleibt; was fremd bleibt, geht. Keine Grenzpolizei nötig, keine Reinheitsgebote, keine Identitätskontrolle. Die Form erhält sich durch Resonanz, durch Schwingungsabstimmung. Hier regiert Affinitätsselektion statt Ausschlusspolitik.

Das Paradox der kraftvollen Schwäche

Das Daodejing feiert wiederholt die Stärke des Weichen – Wasser höhlt Stein, das Biegsame überlebt Stürme, das Nachgiebige siegt. Autarkie in diesem Geist würde bewusst Verletzlichkeit kultivieren, Abhängigkeiten zulassen, Schwächen zeigen. Weniger aus Naivität als aus strategischer Haltung: Wer unverwundbar sein will, muss panzern, kontrollieren, abschotten – und wird spröde. Wer Verletzlichkeit akzeptiert, bleibt flexibel, anpassungsfähig, lernfähig.

Konkret: Eine taoistische Kommune hätte keine Notfallpläne für totale Isolation, keine Bunkermentalität. Stattdessen Netzwerke loser Reziprozität mit Nachbarn, die im Krisenfall aktivierbar bleiben, ohne permanente Verpflichtung zu erzeugen. Das System bleibt autark in seiner Grundfunktion, aber bewusst verletzlich in den Randbereichen – wie ein Organismus, der Haut hat (durchlässig, sensibel), aber keine Rüstung.

Nicht-Wissen als epistemologische Grundlage

Westliche Autarkieprojekte scheitern oft an Hybris – man glaubt, alles planen zu können, alle Eventualitäten zu antizipieren, die perfekte Ordnung zu kennen. Taoismus kultiviert Nicht-Wissen (wu zhi): das Bewusstsein, dass Komplexität Planung übersteigt, dass Ordnung aus Prozessen emergiert, die niemand vollständig durchschaut.

Eine autarke Gemeinschaft mit wu zhi-Haltung experimentiert permanent, ohne Masterplan. Sie probiert Anbaumethoden, beobachtet Ergebnisse, justiert nach – weniger nach theoretischem Modell als nach konkreter Resonanz mit Boden, Klima, Arbeitsrhythmus. Sie entwickelt Entscheidungsstrukturen weniger durch Verfassungsdebatte als durch Konfliktbearbeitung: Wo hakt es? Was löst Spannung? Was beruhigt? Das Regelwerk wächst aus Praxis, bleibt wandelbar, wird nie sakrosankt.

Das Konzept des „einfachen Lebens“ (pu)

Pu meint den unhauenen Block, das Nicht-Kultivierte, die ursprüngliche Einfachheit. Taoistische Autarkie strebt weder nach Perfektion noch nach maximaler Selbstversorgung oder optimierter Effizienz. Sie kehrt zurück zu basaler Funktionalität – gerade genug, um gut zu leben, nicht mehr. Dieser minimalistische Impuls ist anti-totalitär, weil er Ressourcen für Kontrolle entzieht: Wer wenig braucht, muss wenig verwalten, wenig disziplinieren, wenig überwachen.

Das „einfache Leben“ bedeutet hier keine Askese im christlichen Sinn (Selbstkasteiung, Triebunterdrückung), eher Reduktion auf Wesentliches bei gleichzeitiger Sinnlichkeit. Man isst einfach, aber genussvoll. Man wohnt schlicht, aber behaglich. Man arbeitet überschaubar, aber sinnerfüllt. Die Einfachheit schafft Freiräume – zeitlich, räumlich, mental –, in denen sich das Ungeplante entfalten kann. Und genau diese Freiräume verhindern totalitäre Verdichtung.

Moderne Übersetzung: Taoistische Netzwerk-Autarkie

Wie sähe das konkret aus, heute? Vermutlich als dezentrale Netzstruktur – lose gekoppelte Knoten (Haushalte, Werkstätten, Gärten), die hochgradig autonom operieren, aber in Resonanz bleiben. Keine zentrale Planung, kein Gesamtbeschluss, keine kollektive Identität. Stattdessen emergente Ordnung durch lokale Interaktionen: Du baust Überschuss-Kohl, ich repariere deine Werkzeuge, sie organisiert den Saatguttausch – weniger durch Vertrag als durch Gelegenheit, durch timing, durch spontane Passung.

Die „Autarkie“ des Netzwerks liegt in seiner Selbstorganisation, in der Fähigkeit, Funktionen intern zu erzeugen, ohne externe Steuerung zu brauchen. Aber sie bleibt offen: Neue Knoten docken an, alte verschwinden, Verbindungen verdichten sich oder dünnen aus – alles im Fluss. Die Grenze des Netzwerks ist dort, wo die Resonanz abklingt, wo Austausch mühsam wird, wo die gemeinsame Schwingung endet. Keine Mitgliedschaft, keine Statuten, keine Innenperspektive, die sich vom Außen abgrenzen muss.

Technologisch könnte das mit peer-to-peer-Infrastrukturen arbeiten – Mesh-Netzwerke statt Internetprovider, lokale Energietauschsysteme statt Großkonzerne, Commons-basierte Produktion statt Eigentumsfixierung. Aber die Technik folgt der Haltung, umgekehrt funktioniert’s nicht. Entscheidend bleibt die taoistische Grundierung: Geschehenlassen statt Erzwingen, Rhythmus statt Starre, Porosität statt Panzerbau, Verletzlichkeit statt Souveränitätswahn.

Das Scheitern als integraler Bestandteil

Taoismus hat keine Angst vorm Kollaps. Wenn eine Form erschöpft ist, zerfällt sie – zurück ins Formlose, aus dem Neues emergiert. Autarke Projekte mit dieser Haltung bauen bewusst nichts „für die Ewigkeit“. Sie rechnen mit Transformation, mit Ende, mit Neubeginn. Das entspannt die Geschlossenheit: Wer weiß, dass nichts bleibt, muss nichts verkrampft festhalten.

Praktisch hieße das: Die Kommune plant ihre eigene Auflösung ein. Nach zwanzig Jahren, nach fünfzig, nach drei Generationen – Wandel wird erwartet, vielleicht sogar gefeiert. Die Strukturen bleiben leicht demontierbar, die Bindungen lösbar, die Identität fluid. Wenn’s endet, endet’s – ohne Tragödie, ohne Verrat am Ideal. Nur die nächste Phase im ewigen Dao-Prozess.

Diese Akzeptanz von Vergänglichkeit ist das stärkste Gegengift zum Totalitären: Systeme, die ewig währen wollen, müssen totalisieren. Systeme, die ihr Ende kennen, bleiben spielerisch.

Synthese: Die Dialektik der Geschlossenheit

Die ursprüngliche These lässt sich nun präzisieren: Autarke Projekte tendieren zur autoritären Drift, wo drei Bedingungen zusammenkommen – erstens die Verabsolutierung der Selbstgenügsamkeit zum identitären Projekt, zweitens die Schließung der Exit-Option durch ökonomische oder soziale Alternativlosigkeit, drittens das Fehlen externer Relativierungsinstanzen, seien sie transzendent wie im Kloster, kosmologisch wie in indigenen Gesellschaften, diskursiv wie bei Kant, absurd wie bei Camus oder prozesshaft wie im Taoismus.

Basisdemokratie und Genossenschaft mildern diese Tendenz, wo sie Dissens institutionalisieren und Durchlässigkeit bewahren. Sie verschärfen sie, wo partizipative Intensität in moralische Totalisierung umschlägt. Das Kloster St. Gallen zeigt, dass Autarkie funktionieren kann – durch liturgische Machtbegrenzung, pragmatische Öffnung nach außen, metaphysische Selbstrelativierung. Indigene Gemeinschaften demonstrieren alternative Wege: kosmologische Einbettung statt souveräner Selbstsetzung, rhythmische Öffnung statt permanenter Geschlossenheit, Machtdiffusion durch rituelle Spezialisierung statt zentralisierter Kontrolle.

Foucault fügt die entscheidende Wendung hinzu: Vielleicht liegt das Problem weniger in der Autarkie als solcher als in ihrer Beziehung zur Disziplinargesellschaft. Geschlossene Systeme müssen jene Machttechniken konzentrieren, die die offene Gesellschaft elegant verteilt. Diese Konzentration macht die Gewalt sichtbar, spürbar, unerträglich – während sie draußen als normale Subjektivierungsform durchgeht. Die autarke Kommune wird dann zum verzerrten Spiegel, in dem die Gesellschaft ihre eigene Disziplinarmacht wiedererkennt, verdichtet bis zur Kenntlichkeit.

Die philosophische Debatte – Platons Idealpolis gegen Kants Autonomiegebot, Nietzsches Kraftbejahung gegen Camus‘ Revolte – kreist um die Frage, ob Geschlossenheit überhaupt legitimierbar bleibt. Platon bejaht sie unter der Bedingung gerechter Ordnung, Kant unter dem Vorbehalt der Menschenwürde, Nietzsche fordert ihre permanente Selbstüberschreitung, Camus das Recht zur Absurdität trotz System. Alle vier Positionen konvergieren im Misstrauen gegen die Verabsolutierung – sobald die autarke Gemeinschaft sich selbst zum höchsten Gut erklärt, ihre Grenzen sakralisiert, ihre Regeln der Kritik entzieht, entsteht jene toxische Mischung aus Selbstgenügsamkeit und Selbstvergottung, die ins Totalitäre abdriftet.

Die taoistische Perspektive löst das Dilemma anders auf: Sie verweigert das Projekt als solches. Autarkie geschieht, wird nicht gemacht. Sie entsteht aus Wu Wei, aus dem Nicht-Eingreifen in natürliche Selbstorganisation. Die Grenze bleibt diffus, graduell, atmend. Die Gemeinschaft hält zusammen durch De, durch inhärente Potenz, durch Resonanz – niemand muss sie zusammenhalten. Sobald die Form erschöpft ist, darf sie zerfallen. Kein Souveränitätsanspruch, keine Identitätspolitik, keine Ewigkeitsgarantie. Das System bleibt offen durch seine prozessuale Natur, autark durch seine momentane Geschlossenheit, human durch seine Akzeptanz des Wandels.

Indigene Autarkien entkamen der Falle teilweise, weil sie nie Teil der europäischen Disziplinarmoderne wurden – ihre Machttechniken entwickelten sich eigenständig, zielten auf andere Subjektformen, operierten mit anderen Temporalitäten. Der Kolonialismus zerstörte diese Alternativen meist gewaltsam, integrierte die Überreste in kapitalistische Verwertungslogiken. Was bleibt, sind Fragmente, Hinweise auf mögliche Autarkieformen, die weder totalitär noch romantisch verklärt werden müssen – Gemeinschaften, die sich selbst genügten, ohne sich selbst zu verabsolutieren, die Grenzen zogen, ohne sie zu vergöttern, die Macht ausübten, ohne sie zu monopolisieren.

Die Lehre für gegenwärtige Autarkieprojekte: Sie funktionieren human, wo sie ihre eigene Vorläufigkeit anerkennen, wo sie Austrittsmöglichkeiten offen halten, wo sie sich durch Außenkontakte, Handelsbeziehungen, spirituelle Relativierung oder diskursive Selbstkritik porös halten. Die geschlossene Gemeinschaft braucht Sollbruchstellen – Momente, in denen das System sich selbst in Frage stellt, seine Grenzen als kontingent erkennt, die Absolutheit seiner Ansprüche zurücknimmt. Ohne diese rhythmische Selbstdistanzierung wird Autarkie zum Automat, der seine Mitglieder verschlingt.

Die taoistische Variante geht noch weiter: Sie baut die Sollbruchstelle ins Fundament ein. Kein Projekt, das scheitern könnte – nur ein Prozess, der fließt. Keine Grenze, die verteidigt werden müsste – nur eine Intensitätszone, die sich verschiebt. Keine Identität, die bewahrt werden müsste – nur eine Form, die atmet. In dieser radikalen Entsubstantialisierung liegt vielleicht die einzige Autarkie, die wirklich frei bleibt: die, die sich selbst nie ganz ernst nimmt, die weiß, dass sie morgen schon anders sein könnte, die ihre Geschlossenheit als temporäres Muster begreift im größeren Tanz des Dao.

Die Amish: Autarkie als Technikaskese – Eine Nachbetrachtung

Die Amish fallen aus dem bisherigen Raster, weil sie die Autarkie-Frage über Technologie stellen. Wo andere Gemeinschaften Grenzen territorial, ökonomisch oder rituell ziehen, markieren die Amish ihre Differenz durch selektiven Technikverzicht. Das Auto bleibt draußen, die Kutsche definiert das Tempo. Elektrizität vom Netz gilt als Sündenfall, eigene Generatoren gehen durch. Der Reißverschluss ist okay, Knöpfe an Mänteln nicht – weil sie an Militäruniformen erinnern, also Gewalt symbolisieren.

Diese Ordnung (Ordnung im technischen Sinn) wirkt von außen arbiträr, folgt aber einer inneren Logik: Jede Technik wird daraufhin befragt, ob sie die Gemeinschaft schwächt oder stärkt. Das Telefon im Haus trennt Familien – also kommt’s in die Telefonzelle am Feldrand, wird Werkzeug statt Lebensform. Der Traktor macht den Bauern unabhängig von Nachbarn, beschleunigt die Arbeit bis zur Vereinzelung – also bleibt’s beim Pferdegespann, das Kooperation erzwingt, weil schwere Arbeit gemeinsam bewältigt werden muss.

Das ist Autarkie durch Geschwindigkeitsreduktion. Die Amish haben begriffen, was die Beschleunigungstheoretiker erst im 20. Jahrhundert formulierten: Tempo löst soziale Bindungen auf, schafft Abhängigkeit von abstrakten Systemen, ersetzt face-to-face durch Fernsteuerung. Wer langsam bleibt, bleibt lokal. Wer lokal bleibt, bleibt autark – zumindest relational.

Rumspringa: Die eingebaute Sollbruchstelle

Was die Amish vor totalitärer Erstarrung bewahrt, ist ausgerechnet eine Jugendphase namens Rumspringa – wörtlich “herumspringen”. Mit 16 dürfen die Kids raus in die moderne Welt, dürfen saufen, Autos fahren, Smartphones nutzen, die ganze verbotene Palette durchprobieren. Manche bleiben weg, die meisten kommen zurück – mit Wissen, mit Erfahrung, mit bewusster Entscheidung.

Das ist Exit-Option als Initiationsritus. Die Gemeinschaft verzichtet auf totale Kontrolle genau in der Phase, wo sie am verletzlichsten wäre. Statt die Jugend einzusperren, lässt man sie gehen, riskiert den Verlust. Das funktioniert, weil die Rückkehr freiwillig bleibt, weil niemand behaupten kann, er hätte keine Alternative gekannt. Die Amish produzieren keine gefangenen Mitglieder, sondern informierte Wiedertäufer.

Rumspringa immunisiert gegen Fundamentalismus. Wer die Moderne kennt, ihre Versprechen geprüft und verworfen hat, kann sie nicht mehr zum Mythos verklären. Die Technowelt wird entdämonisiert durch Erfahrung – bleibt Option, wird aber nicht mehr zur Verheißung. Das unterscheidet die Amish von Sekten, die Außenkontakt verteufeln: Sie kennen das Draußen, haben entschieden, dass drinnen lebenswerter ist.

Gemeindeautonomie statt Zentraldogma

Die Amish haben keine Gesamtkirche, keinen Papst, kein bindendes Lehramt. Jede Gemeinde entscheidet selbst, was gilt – deshalb die Varianz zwischen Gruppen. Die einen erlauben Rollerblades, die anderen nicht. Manche nutzen Solarenergie, andere lehnen sie ab. Es gibt keine orthodoxe Linie, die durchgesetzt wird, kein Zentralkomitee der Technikaskese.

Diese Dezentralität verhindert ideologische Totalisierung. Was in einer Gemeinde Sünde ist, bleibt in der nächsten erlaubt. Wer mit der lokalen Ordnung nicht klarkommt, kann umziehen, eine andere Gemeinde finden, die lockerer oder strenger regelt. Das Netzwerk bleibt porös durch interne Differenz – Autarkie wird plural, verliert den Anspruch auf die eine richtige Form.

Zugleich erzeugt das Spannung. Gemeinden können abdriften, sich radikalisieren oder liberalisieren, den Kontakt zur Kerngemeinschaft verlieren. Manche Gruppen spalten sich ab, werden zu rigide oder zu lax. Aber genau diese Spaltungsfähigkeit hält das System lebendig – statt eine monolithische Struktur zu zementieren, die irgendwann bricht, blättert die Amish-Welt in Schichten ab, bildet neue Knospen, stirbt teilweise ab, ohne als Ganzes zu kollabieren.

Technologiekritik als Freiheitspraxis

Die Amish betreiben das, was Philosophen erst seit den 1960ern fordern: reflexive Technologieaneignung. Jedes Gerät wird diskutiert, in der Gemeindeversammlung verhandelt, auf seine sozialen Folgen hin geprüft. Das Auto? Macht mobil, reißt Familien auseinander, schafft Pendler statt Nachbarn. Das Internet? Öffnet Welten, zerstört Präsenz, ersetzt Gespräch durch Getipptes.

Diese Prüfung ist keine Technikfeindlichkeit, eher eine Technopolitik. Die Amish wissen, dass jede Infrastruktur eine Lebensform prägt, dass Werkzeuge Verhaltensweisen erzwingen, dass Medien Sozialstrukturen umbauen. Deshalb die Vorsicht, die Langsamkeit der Aneignung. Was anderswo als Fortschritt durchgeht – schneller, effizienter, vernetzter –, wird hier auf Gemeinschaftsverträglichkeit gecheckt.

Das ist Autarkie als Techniksouveränität. Die Amish lassen sich nichts aufdrängen, weder von Märkten noch von Modernisierungsimperativen. Sie wählen aus, was passt, verweigern den Rest. Das funktioniert, weil die ökonomische Basis stimmt – Landwirtschaft, Handwerk, lokale Produktion. Wer sein Essen anbaut, seine Häuser selbst zimmert, seine Möbel schreinert, kann der Konsumgesellschaft die kalte Schulter zeigen.

Die Grenze als Membran: Wirtschaftliche Verflechtung

Aber halt – so autark sind die Amish gar nicht. Sie verkaufen ihre Produkte auf Märkten, nutzen englische (non-Amish) Fahrer für Ferntransporte, arbeiten in nicht-amischen Betrieben, kaufen Saatgut, Werkzeug, Stoffe. Die Grenze zur Außenwelt ist semipermeabel, funktioniert ökonomisch als Membran: raus darf, was Geld bringt, rein kommt, was notwendig ist.

Diese selektive Öffnung stabilisiert die Autarkie, statt sie zu untergraben. Die Amish bleiben eingebettet in regionale Wirtschaftskreisläufe, ohne darin aufzugehen. Sie partizipieren am Markt, werden aber nicht von ihm regiert. Das gelingt durch kulturelle Distanz – man handelt mit den Englischen, lebt aber separat. Geschäft bleibt Geschäft, Identität bleibt Identität.

Hier zeigt sich eine Parallele zum Potlatch: Wirtschaft wird zur Beziehungspraxis umfunktioniert. Die Amish verkaufen Gemüse, Quilts, Möbel – aber der Verkaufsakt bindet sie an die englische Nachbarschaft, schafft Abhängigkeiten auf beiden Seiten. Die Englischen brauchen amische Handwerkskunst, die Amish englische Infrastruktur. Das erzeugt ein fragiles Gleichgewicht, das Konflikte entschärft, weil niemand den anderen vernichten kann, ohne sich selbst zu schaden.

Gelassenheit als Anti-Politik

Die Amish kennen kein politisches Projekt. Sie wollen die Welt nicht bekehren, kein Reich Gottes errichten, keine Revolution anzetteln. Gelassenheit (ihr Kernbegriff) meint: die Welt lassen, wie sie ist, sich selbst rausnehmen, ohne anderen vorzuschreiben, wie sie leben sollen. Das unterscheidet sie von missionarischen Sekten, die ihre Wahrheit verbreiten wollen, und von revolutionären Kommunen, die das System stürzen müssen.

Diese Nicht-Politik ist anti-totalitär im Kern. Wer keine Weltherrschaft anstrebt, muss keine Gegner eliminieren. Wer nur für sich bleibt, braucht keine Propaganda, keine Expansion, keine Unterwerfung. Die Amish leben ihre Autarkie als stilles Beispiel, als gelebte Alternative – wer’s attraktiv findet, kann dazukommen, wer nicht, bleibt draußen.

Gelassenheit bedeutet auch: Akzeptanz der eigenen Begrenztheit. Die Amish wissen, dass sie eine Minderheit bleiben, dass ihre Lebensform fragil ist, dass die Moderne stärker bleibt. Aber das deprimiert sie nicht – im Gegenteil. Die Begrenztheit wird zur Tugend, die Kleinheit zum Wert. Man will gar nicht groß werden, gar nicht expandieren, gar nicht siegen. Einfach überleben, in der eigenen Weise, solange es geht.

Das Problem der Geschlechterrollen

Wo die Amish scheitern – oder zumindest haken – ist die Patriarchatsstruktur. Frauen bleiben ausgeschlossen von Leitungsämtern, dürfen nicht predigen, werden auf Hauswirtschaft und Kindererziehung festgelegt. Die Männer entscheiden in Gemeindeversammlungen über Technikfragen, Konflikte, Ordnungsänderungen. Frauen hören zu, schweigen, fügen sich.

Das ist klassische Herrschaftsarchitektur, getarnt als Tradition. Die Autarkie der Gemeinde baut auf der Heteronomie der Frauen auf. Gelassenheit gilt für Männer, Gehorsam für Frauen. Die Sollbruchstelle Rumspringa funktioniert für Jungs besser als für Mädchen – die einen toben sich aus, kommen zurück als freie Entscheider, die anderen bekommen Kinder, bleiben gebunden, haben weniger Wahl.

Hier wird die Gemeinschaft totalitär im kleinen Maßstab. Die Geschlechterordnung lässt keine Variation zu, keine Abweichung, keine Diskussion. Wer als Frau emanzipatorische Ansprüche stellt, muss gehen – Exit als einzige Option, statt interner Reform. Das produziert Stille, Anpassung, unterdrückte Ressentiments. Manche Frauen arrangieren sich, finden Macht in informellen Räumen – Küche, Kindererziehung, soziale Netzwerke. Andere leiden, bleiben stumm, warten auf Rumspringa ihrer Töchter, die vielleicht wegbleiben.

Die Amish zeigen hier die Grenze ihrer Autarkie-Form: Wo die Technikkritik progressiv wirkt, bleibt die Geschlechterpolitik reaktionär. Das eine befreit von industrieller Fremdbestimmung, das andere zementiert patriarchale Kontrolle. Die Gemeinschaft bleibt human für Männer, prekär für Frauen – eine halbe Autarkie, eine geteilte Freiheit.

Gewaltlosigkeit als Stabilitätsfaktor

Die Amish lehnen Gewalt radikal ab – keine Waffen, keine Polizei, keine Selbstverteidigung. Wenn jemand angreift, weichen sie aus, zahlen Schutzgeld, ziehen um. Diese Wehrlosigkeit wirkt wie Schwäche, ist aber Stärke im taoistischen Sinn: Sie entzieht sich der Eskalationslogik, die Konflikte zu Kriegen aufbläst.

Gewaltlosigkeit verhindert die militärische Totalisierung, die viele autarke Projekte zerrüttet. Wer sich nicht verteidigen kann, muss verhandeln, Kompromisse schließen, Beziehungen pflegen. Die Amish sind gezwungen zur Diplomatie, zur Nachbarschaftspflege, zur Integration ins größere soziale Gefüge. Das hält die Grenzen weich, verhindert die Festungsmentalität, die aus Autarkie Paranoia macht.

Zugleich funktioniert das nur, weil der US-Rechtsstaat drumherum liegt. Die Amish können gewaltlos bleiben, weil die Polizei im Notfall kommt, weil Gerichte Konflikte regeln, weil Eigentum geschützt wird. Ihre Autarkie ist parasitär auf staatlicher Infrastruktur – sie nutzen das Gewaltmonopol, ohne daran teilzuhaben. Das ist ehrlich genug, keine Heuchelei: Sie bekennen die Abhängigkeit, statt totale Selbstständigkeit zu behaupten.

Fazit: Autarkie als Lebenskunst

Die Amish zeigen eine Autarkie-Variante, die funktioniert, weil sie bescheiden bleibt. Keine Weltrevolution, keine Heilsversprechen, keine absolute Unabhängigkeit. Nur eine Lebensform, die sich gegen die Moderne behauptet, indem sie sich ihr entzieht, ohne sie zu bekämpfen. Die Technikaskese schafft Distanz, Rumspringa hält die Exit-Tür offen, Gemeindeautonomie verhindert Zentralismus, Gewaltlosigkeit beugt Militarisierung vor.

Wo es hakt, hakt es gewaltig: Patriarchat, theologische Enge, beschränkte Bildung. Die Gemeinschaft bleibt human für die, die passen – Männer, Gläubige, Konforme. Für andere wird’s eng, bleibt nur der Absprung. Das unterscheidet die Amish von totalitären Systemen: Sie halten die Tür auf, zwingen niemanden zu bleiben. Aber die Tür ist schmal, der Weg zurück steinig.

Die Lehre: Autarkie gelingt durch Selbstbeschränkung, durch bewusste Kleinheit, durch Verzicht auf den Totalanspruch. Die Amish wollen niemanden retten außer sich selbst, wollen keine neue Welt bauen, nur ihre alte bewahren. Das ist wenig ambitioniert, aber genau deshalb stabil. Wo andere autarke Projekte an ihrer Größe ersticken, an ihren Utopien zerbrechen, an ihrer Geschlossenheit ersticken, überleben die Amish durch Genügsamkeit.

Sie praktizieren Autarkie als Lebenskunst, als Stilfrage, als ästhetische Entscheidung fast – so wollen wir leben, nicht anders, nicht besser. Wer das teilt, kommt dazu. Wer nicht, geht. Keine Missionierung, keine Bekehrung, keine Gewalt. Nur ein Angebot, das steht, solange es trägt. Und wenn’s endet, endet’s – auch das Gelassenheit.

Autarkie Daoismus Drift Totalitarismus Wildes Denken

Von sab

Sascha Büttner
Seit mehr als 25 Jahren übt Sascha Büttner die Profession des Coaches sowie des Trainers in der Arbeitswelt aus, ist Taijiquan, Tai Chi und Qigong praktizierender und meditiert seit seinem 14. Lebensjahr. Zudem betätigt er sich als Fotograf, Herausgeber und Autor. Zeit seines Lebens folgt er dem Tao.
Sascha Büttner gründete und betreibt das metalabor, einen der kleinsten, deutschsprachigen Think Tanks.