„Through alienation, people and things become mobile assets; they can be removed from their life worlds in distance-defying transport to be exchanged with other assets from other life worlds, elsewhere.“
— Anna Lowenhaupt Tsing

Sechsundzwanzig Driften durch kapitalistische Mobilisierung
Erste Bewegung: Die Gewalt liegt im „werden“
Die Gewalt steckt im Prozess selbst, im „werden“. Dinge sind keine Assets, sie werden zu Assets gemacht – durch aktiven Eingriff, Transformation, Rechtsfiktion. Was muss geschehen, damit ein Ding handelbar wird? Rechtsgeschichtlich bedeutet das die Erfindung beweglichen Eigentums als Kategorie überhaupt. Im Feudalismus war Besitz primär Land, unveräußerlich, an Vasallenpflichten gebunden. Die Mobilisierung von Besitz – dass man Land verkaufen, verpfänden, als Kapital einsetzen kann – entsteht als historische Neuerung, die Sarah Vanuxem bis in den Code Civil verfolgt, wo sich noch Spuren anderer Eigentumskonzeptionen finden lassen. Eigentum als Wohnen beispielsweise, statt als pure Verfügungsgewalt. Diese Spuren werden überschrieben, verschwinden aber nie ganz.
Der Übergang von res nullius zu mobile asset vollzieht sich durch juristische Fiktion. Terra nullius als klassisches koloniales Instrument – bewohntes Land wird zu unbewohntem erklärt, damit Aneignung möglich wird. Dieselbe Logik gilt für Dinge: Sie müssen erst als herrenlos erklärt werden, um verfügbar zu sein. Die Mobilisierung setzt Entwurzelung voraus, gewaltsam wenn nötig.
Zweite Bewegung: Transport als Abstraktion
Der Container standardisiert dabei weniger die Waren als den Raum um sie herum. Der 20-Fuß-Standardcontainer (TEU) funktioniert unabhängig davon, ob Elektronik, Textilien oder Lebensmittel transportiert werden. Die Heterogenität wird ummantelt von Homogenität, was die logistische Revolution erst ermöglicht – Schiffe, Züge, LKWs bewegen dieselben Boxen. Intermodaler Verkehr bedeutet, dass die Ware das Medium wechselt, ohne selbst bewegt zu werden. Der Container reist, die Dinge darin bleiben statisch. Um Mobilität zu maximieren, muss man Dinge immobilisieren – fixieren in Standardboxen, Paletten, Verpackungen. Die Bewegung bleibt äußerlich, die Waren eingefroren.
Marc Augé schreibt über Flughäfen als Nicht-Orte, aber eigentlich sind es Anti-Orte, die aktiv Verortung verhindern. Duty-free-Shops reproduzieren sich identisch überall. Kein Hier mehr, bloß Wartezeit zwischen Orten. Der Container als mobiler Anti-Ort schafft topologische Suspension – das Ding ist nirgendwo, während es sich bewegt.
Dritte Bewegung: Lebenswelten – was wird abgeschnitten?
Phänomenologisch verstanden ist Lebenswelt kein bloßes Umfeld, eher ein Sinnhorizont – die Gesamtheit von Bedeutungszusammenhängen, in die wir immer schon eingelassen sind. Husserl begreift die Lebenswelt als Apriori objektiver Wissenschaft. Wissenschaftliche Abstraktionen gründen in vorreflexiver, gelebter Erfahrung. Kapitalistische Entfremdung schneidet diese Gründung ab. Die Ware erscheint ohne Geschichte, ohne Produktionsbedingungen, ohne ökologische Einbettung – reine Oberfläche.
Marx beschreibt den Warenfetisch als Zustand, in dem gesellschaftliche Verhältnisse als Verhältnisse zwischen Dingen erscheinen. Eigentlich läuft es umgekehrt: Die Dinge verlieren ihre Verhältnisse, um als pure Tauschwerte zu erscheinen. Tsing radikalisiert das – Menschen haben Lebenswelten, aber ökologische Gefüge ebenfalls. Der Matsutake existiert in komplexer Symbiose: Mykorrhiza mit Kiefernwurzeln, Bodenpilze, saisonale Rhythmen, Feuchtigkeit, Lichteinfall. Diese Einbettung muss geleugnet werden, um den Pilz handelbar zu machen. Er wird zum isolierten Objekt: „Matsutake, Grade A, 200g“. Die Beziehungen verschwinden aus der Warenbeschreibung.
Vierte Bewegung: Was heißt „elsewhere“?
Das „anderswo“ (elsewhere) bleibt dabei alles andere als neutral. Topologisch schafft Kapitalismus Zentren und Peripherien. Ressourcen kommen von elsewhere (Peripherie) zu here (Zentrum). Der Transport ist gerichtet, kaum reziprok. Historisch war das explizit kolonial – Rohstoffe aus Kolonien, Fertigprodukte zurück. Heute verschleiert, strukturell aber identisch: Seltene Erden aus Afrika für iPhones in Kalifornien, E-Waste zurück nach Ghana. Das elsewhere ist immer ärmer, ausgebeuteter, rechtloser – kein geografischer Zufall, sondern produzierte Differenz.
Fanon beschreibt die koloniale Welt als bipolare Welt. Europäische Stadt (breit, asphaltiert, sauber) versus native quarter (eng, schmutzig, übervölkert). Diese räumliche Trennung ist konstitutiv, keine akzidentielle Eigenschaft. Globale Supply Chains heute machen die räumliche Segregation unsichtbar. Der Konsument sieht weder die Sweatshop in Bangladesh noch die Kobaltmine in Kongo noch die Elektroschrott-Deponie in Agbogbloshie. Die Topologie bleibt: Wertschöpfung hier, Ausbeutung elsewhere.
Fünfte Bewegung: Die Frage der Geschwindigkeit
„Distance-defying“ – welcher Distanz wird eigentlich getrotzt? Räumlich offensichtlich, aber auch temporal. Paul Virilio versteht Logistik als Dromologie, Wissenschaft der Geschwindigkeit. Wer schneller ist, gewinnt. Just-in-Time-Produktion eliminiert Lagerkosten, erfordert aber perfekt getaktete Lieferketten. Die Beschleunigung ist asymmetrisch: Kapital bewegt sich in Millisekunden (Hochfrequenzhandel), Arbeiter warten Wochen auf Visa. Waren rasen um den Globus, während Menschen in Lagern festgehalten werden.
Diese temporale Gewalt zeigt sich drastisch – Flüchtende im Mittelmeer versus Containerschiffe. Beide überqueren dieselbe Distanz, das eine in zwei Wochen auf geplanter Route, das andere als tödliches Risiko. Die Geschwindigkeit der Mobilisierung ist Privileg. Nichts und niemand darf unbeschränkt zirkulieren. Hartmut Rosa diagnostiziert soziale Beschleunigung, die Zeit frisst. Wir haben immer weniger Zeit, obwohl Technologie Zeit sparen sollte, weil die gewonnene Zeit sofort neu gefüllt wird mit mehr Pflichten, mehr Konsum, mehr Optionen. Der 24h-Lieferservice bedeutet keinen Zeitgewinn für Konsumentinnen, eher Zeitdruckerhöhung für Lieferantinnen. Die Beschleunigung kommt nie an.
Sechste Bewegung: Matsutake als Widerstand
Warum wählt Tsing ausgerechnet einen nicht-kultivierbaren Pilz? Weil er sich strukturell der Skalierung entzieht. Plantation logic – die Logik der Monokultur, der Standardisierung, der industriellen Reproduktion – funktioniert beim Matsutake nicht. Der Pilz wächst ausschließlich unter spezifischen, kontingenten Bedingungen: in gestörten Kieferwäldern (Kahlschlag, Waldbrand), in Symbiose mit bestimmten Baumarten, bei bestimmter Feuchtigkeit. Diese Bedingungen lassen sich weder im Labor noch auf Plantagen reproduzieren.
Das zwingt das Kapital, sich mit Unberechenbarkeit zu arrangieren. Manche Jahre wachsen viele Pilze, manche fast keine. Niemand weiß warum. Die Produktion ist nicht planbar. Das ist keine romantische Resistenz – der Matsutake wird trotzdem gehandelt, globalisiert, kommodifiziert. Aber er bleibt störrisch, weigert sich, vollständig in kapitalistische Logik aufzugehen. Andere nicht-skalierbare Dinge folgen ähnlichen Mustern: Wildfisch (nicht Aquakultur), Trüffel, Wildtiere, Wälder (nicht Plantagen). Alles, was ökologische Komplexität braucht.
Die Tendenz des Kapitals läuft auf Domestizierung, Standardisierung, Kontrolle hinaus. Wenn das scheitert: Ausrottung (Überfischung, Entwaldung) oder Marginalisierung (zu teuer, zu aufwendig, verschwindet aus Massenkonsum). Der Matsutake überlebt, weil er wertvoll genug ist, dass sich die Mühe lohnt – aber störrisch genug, dass er sich totaler Subsumtion entzieht.
Siebte Bewegung: Die Frage nach dem Subjekt
„People and things become mobile assets“ – Menschen und Dinge in derselben Bewegung. Das ist der Skandal. Dinge werden verdinglicht, klar, aber Menschen werden zu Humankapital, zu Assets. Foucaults Gouvernementalität beschreibt, wie der Neoliberalismus Subjekte als Unternehmer ihrer selbst formt. Du bist kein Arbeiter, du bist dein eigenes Startup. Investiere in dich, optimiere dich, steigere deinen Marktwert. Byung-Chul Han zeigt, dass das Leistungssubjekt sich selbst ausbeutet. Keine externe Herrschaft mehr nötig – die Herrschaft ist internalisiert. Du bist Chef und Angestellter in Personalunion.
Die Mobilisierung des Selbst läuft als Flexibilitäts-Imperativ. Mobil sein für den Arbeitsmarkt (Umzüge für Jobs), mobil in Fähigkeiten (lebenslanges Lernen, ständige Weiterbildung), mobil im Denken (Agilität, Anpassungsfähigkeit). Diese Mobilität ist erzwungene Prekarität. Du musst flexibel sein, weil es keine Sicherheit mehr gibt. Die Mobilität ist keine Freiheit, eher Überlebensstrategie.
Arbeitsmigration global: Menschen als mobile assets – geholt, wenn Arbeitskraft gebraucht wird, abgeschoben, wenn nicht mehr profitabel. Gastarbeiter, Saisonarbeiter, befristete Visa. Die Logik ist identisch mit Waren: Just-in-Time-Arbeitskraft. Nulltoleranz für Überbestand (Arbeitslosigkeit im Zielland), maximale Verfügbarkeit bei Bedarf.
Achte Bewegung: Tausch als Äquivalenz-Zwang
„Exchanged with other assets“ – der Tausch setzt Kommensurabilität voraus. Aber die zu tauschenden Dinge sind inkommensurabel. Ein Pilz aus Oregon und Yen in Tokyo haben nichts gemeinsam, kein natürliches Maß. Aristoteles sieht das Paradox schon: Wie kann ein Haus gegen Schuhe getauscht werden? Sie sind völlig verschieden. Es braucht ein tertium comparationis, ein Drittes, das beide vergleichbar macht. Bei Aristoteles menschliches Bedürfnis, bei Marx abstrakte Arbeit, bei neoklassischer Ökonomie Nutzen oder Präferenz.
Keine dieser Erklärungen greift wirklich. Der Tausch schafft erst die Kommensurabilität, die er voraussetzt. Das Geld ist performativ – es macht Dinge vergleichbar, indem es ihnen Preise zuweist. Tsing versteht diese Vergleichbarmachung als Gewalt. Sie löscht Differenz. Der spezifische Matsutake (dieser hier, gewachsen unter diesen Bedingungen, gesammelt von dieser Person) wird zu fungible unit. Die japanische Gabenwirtschaft am Ende der Kette versucht, diese Singularität wiederherzustellen: Jeder Pilz wird individuell bewertet, für spezifischen Empfänger ausgewählt. Aber die Phase totaler Fungibilität (im Flugzeug als Inventar) muss durchlaufen werden.
Neunte Bewegung: Ruinen als Ausgangspunkt
Tsings Titel – „At the End of the World“ – wählt den Matsutake, weil er gerade in Ruinen wächst. Nach Kahlschlag, nach Waldbrand, nach Hiroshima. Das heißt: Es gibt kein Zurück zu unberührter Natur. Wir leben in kapitalistischen Ruinen – ökologisch, sozial, epistemologisch. Die Frage lautet weniger „Wie verhindern wir Ruinen?“, eher „Wie leben in Ruinen?“
Benjamins Engel der Geschichte sieht Trümmerhaufen, wo wir Fortschritt sehen. Vielleicht ist die Aufgabe weniger, die Trümmer wegzuräumen (restaurative Utopie), eher mit ihnen zu leben. Tsing schreibt irgendwo: „Precarity is the condition of our time.“ Prekarität als Normalzustand, keine Ausnahme. Keine Garantien, keine Sicherheit, keine Teleologie. Das könnte paralysierend sein, aber Tsing findet darin Möglichkeit: Wenn nichts garantiert ist, ist auch nichts unmöglich. In den Lücken des Kapitalismus, an seinen Rändern, wachsen Dinge, die nicht geplant waren.
Der Matsutake als Hoffnungszeichen bleibt ambivalent. Keine naive Behauptung „Natur erholt sich immer!“ (ökologischer Kitsch), eher: Selbst in den schlimmsten Verwüstungen emergiert etwas Neues. Das Alte wird nicht restauriert, unvorhersehbare Assemblagen entstehen.
Zehnte Bewegung: Wo das Derive pausiert
Nach zehn Umkreisungen erscheint das Zitat als Formel und Diagnose zugleich. Formel: So funktioniert kapitalistische Akkumulation. Entfremdung → Mobilisierung → Tausch. Der Dreischritt, der aus embedded things Waren macht. Diagnose: Das ist keine metaphysische Notwendigkeit, eher historischer Prozess. Der Container ist keine Naturkonstante, sondern Erfindung der 1950er. Die globale Supply Chain ist keine ewige Wahrheit, eher kontingentes Arrangement.
Und sie funktioniert nie perfekt. Der Matsutake stört. Lebenswelten verschwinden nicht, sie werden unsichtbar gemacht – können also wieder sichtbar gemacht werden. Der Tausch ist nie total – Gaben zirkulieren weiter, Commons existieren, Subsistenz überlebt. Die Frage nach Widerstand lautet dann weniger „Wie zerschlagen wir das System?“ (revolutionäre Phantasie), eher „Wo sind die Risse?“ Wo funktioniert die Mobilisierung nicht? Wo bleiben Dinge störrisch verwurzelt? Wo verweigern Menschen die Selbst-Mobilisierung?
Das Zitat ist Schlüssel zur Dechiffrierung der kapitalistischen Gegenwart geworden.
Elfte Bewegung: Infrastrukturen – das Unsichtbare sichtbar machen
Die Supply Chain existiert physisch – Häfen, Autobahnen, Glasfaserkabel, Kühlhäuser. Dabei ist sie designed for invisibility. Der Konsument soll den Pilz sehen, die Pizza, das iPhone. Die Infrastruktur dahinter verschwindet. Keller Easterling nennt das extrastatecraft: Die eigentliche Macht liegt in Infrastrukturstandards, Zonengesetzen, Containerformaten. Diese Architekturen regieren unterhalb der offiziellen Politik. Wer die Infrastruktur kontrolliert, kontrolliert Bewegungskorridore – was sich bewegen darf, wohin, wie schnell.
Der Hafen von Rotterdam, größter in Europa, algorithmisch gesteuert – Kräne bewegen Container nach Echtzeitoptimierung. Null menschliche Entscheidung. Die Logistik wird zur black box, Input/Output messbar, Prozesse opak. Susan Leigh Star bemerkt: Infrastrukturen werden sichtbar im Moment des Zusammenbruchs. Suez-Kanal 2021blockiert – plötzlich merkt jeder, dass 12% des Welthandels durch eine einzige Wasserstraße fließen. IKEA-Regale bleiben leer, Möbelfirmen können nicht liefern. Die Fragilität zeigt sich als Schock.
Dabei ist Fragilität konstitutiv. Die Just-in-Time-Logik eliminiert Redundanz (teuer!), schafft damit maximale Verwundbarkeit. Ein Glied bricht, die ganze Kette stockt. COVID hat das brutal demonstriert: Halbleiterwerke in Taiwan schließen, Autoproduktion in Deutschland steht still. Die Infrastruktur ist Herrschaft in Beton gegossen. Highways durch afroamerikanische Viertel (Robert Moses), Bahnlinien die Indigenes Land durchschneiden, Pipelines als territoriale Gewalt. Jede Straße, jede Schiene ist politische Entscheidung, wer mobil sein darf, wer zurückbleibt.
Lefebvre: Der Raum ist nie gegeben, immer produziert. Kapitalistischer Raum ist abstrakt, homogen, austauschbar – das Gegenteil von gelebtem Raum, der Differenz, Dichte, Geschichte hat. Die Logistikinfrastruktur ist materielle Durchsetzung dieser Abstraktion.
Zwölfte Bewegung: Hauntology – was kehrt zurück
Mark Fisher übernimmt von Derrida: Hauntology, die Wissenschaft vom Spuk. Was spukt in der Gegenwart? Abgebrochene Zukünfte, verlorene Alternativen, verdrängte Vergangenheiten. Die Containerschiffe sind Geisterschiffe im wörtlichen Sinn – skelettierte Crews, automatisierte Systeme, meistens unter billiger Flagge registriert (Liberia, Panama). Die Schiffe gehören niemandem Konkretem, existieren in juristischen Grauzonen. Hochsee als rechtsfreier Raum.
Hauntology geht tiefer: Die Waren tragen ihre Produktionsgeschichte als Phantom. Du kaufst Sneaker, siehst Design und Marke – aber die Näherin in Vietnam spukt darin. Unsichtbar gemacht, materiell präsent in jedem Stich, jeder Naht. Ghostwork – der Begriff stammt aus der Tech-Welt (unsichtbare Klickarbeiter hinter KI-Systemen), passt auf alle Supply Chains. Das System funktioniert durch abgespaltene Arbeit: Lieferfahrer, Lagerarbeiter, Reinigungskräfte. Sie müssen verschwinden aus der Selbstdarstellung („frictionless shopping experience“), bleiben jedoch systemnotwendig.
Walter Benjamin: Die Toten haben Anspruch auf die Lebenden. Jede Ware ist getränkt mit unbezahlter Arbeit, mit ökologischer Zerstörung, mit kolonialer Akkumulation. Diese Schuld verschwindet nicht, sie akkumuliert. Climate debt, historical debt, care debt. Die Container sind mobile Särge für entfremdete Dinge. Särge können aufbrechen. Die Gespenster können zurückkehren – als Krankheit (Zoonosen aus gestörten Ökosystemen), als Katastrophe (Klimakollaps), als Revolte (Hafenarbeiterstreiks, Lieferketten-Sabotage).
Avery Gordon: To be haunted heißt, dass die Gegenwart unabgeschlossen ist. Die Vergangenheit ist nicht vorbei, die Zukunft nicht offen. Alles stockt, wiederholt sich, kehrt zurück. Der Spuk ist Zwang zur Aufmerksamkeit – etwas will bemerkt werden, was systematisch ausgelöscht wird.
Dreizehnte Bewegung: Myzel-Netzwerke – andere Logiken
Tsing interessiert sich für Pilze, weil sie laterale Verbindungen schaffen statt hierarchische. Das Myzel ist ein unterirdisches Netzwerk – Fäden (Hyphen) verzweigen sich, fusionieren, teilen Nährstoffe. Kein Zentrum, keine Kontrolle. Ein Myzel kann kilometerweit reichen, ohne sichtbare Fruchtkörper. Das eigentliche Wesen des Pilzes ist versteckt, verteilt, dezentral. Der Matsutake, den man pflückt, ist bloß die temporäre Manifestation eines riesigen unterirdischen Organismus.
Suzanne Simard zeigt: Bäume kommunizieren über Mykorrhiza-Netzwerke. „Wood wide web“ – Mutterbäume versorgen Setzlinge mit Zucker, Alarmsignale werden weitergegeben bei Insektenbefall. Das Gegenmodell zur Konkurrenz: Kooperation als Überlebensstrategie. Kapitalistische Logistik ist arboreale Struktur – hub-and-spoke, zentrale Verteilzentren, hierarchische Routing-Algorithmen. Amazon-Warenlager als Knotenpunkte, von denen sternförmig Lieferwagen ausschwärmen. Effizienz durch Zentralisierung.
Myzel ist rhizomatisch (Deleuze/Guattari): Jeder Punkt kann mit jedem anderen verbunden werden. Keine vorgeschriebenen Routen, keine Haupt- und Nebenlinien. Wenn ein Pfad blockiert wird, wachsen andere. Praktisch heißt das: Lokale Netzwerke statt globale Ketten. Community-supported agriculture – Gemüse direkt von Höfen in der Region, saisonal, unverpackt. Reparatur-Netzwerke statt Wegwerf-Konsum. Skill-sharing statt Warenverkauf.
Vorsicht vor Romantisierung: Myzel ist auch brutal. Pilze zersetzen, kolonisieren, konkurrieren mit Bakterien und anderen Pilzen. Die Kooperation ist interessengeleitet, kein altruistischer Idealismus. Das Netz kann auch würgen. Alexis Shotwell: „Against purity“ – keine unschuldigen Alternativen. Jede Praxis ist verstrickt, komplizit, widersprüchlich. Die Frage ist welche Kompromisse, ob Kompromisse. Myzel-Logiken sind anders, bleiben unrein.
Vierzehnte Bewegung: Praktische Widerstandsformen – Brüche und Blockaden
Widerstand gegen Logistikketten bedeutet Unterbrechung. Hafenarbeiterstreiks legen Warenfluss lahm – siehe Oakland 2011, Blockade israelischer Schiffe. Die Logistik ist extrem zeitkritisch, jeder Verzug multipliziert sich. Choke points: Suez-Kanal, Straße von Hormus, Panama-Kanal. Geografische Engstellen, wo globaler Handel konzentriert wird. Politisch hochbrisant – wer diese Punkte kontrolliert oder blockiert, hat enormen Hebel.
XR, Ende Gelände, indigene Landverteidiger blockieren Infrastrukturen: Pipelines, Kohlezüge, Autobahnen. Die Logik ist ähnlich – materieller Eingriff statt symbolischer Protest. Nicht sagen „das ist falsch“, unmöglich machen. Deborah Cowen: Logistik als militärische Strategie. Supply lines waren immer kriegsentscheidend. Heute ist zivile Logistik militarisiert (Homeland Security überwacht Häfen), militärische Logistik privatisiert (Blackwater transportiert für Pentagon). Die Grenzen verschwimmen.
Widerstand kann auch parasitär sein statt konfrontativ. Leute nutzen Amazon-Retouren als kostenlosen Kurierdienst. Lieferfahrer sabotieren Überwachungsalgorithmen durch kollektive Absprachen. Kleine Störungen, die sich addieren. Commoning als Alternative: Commons sind Ressourcen, die gemeinschaftlich verwaltet werden – Wälder, Wasser, Land, auch Wissen, Care-Arbeit. Elinor Ostrom zeigt: Commons funktionieren langfristig besser als privatisierte oder staatliche Ressourcen. Sie brauchen Regeln, Selbstorganisation, Vertrauen.
Silvia Federici: Commons wurden historisch durch Enclosures zerstört – Einhegung der Allmende, Privatisierung von Gemeinbesitz. Das ist ongoing process (Wasserprivatisierung, Landgrabbing, Patente auf Gene). Widerstand heißt Re-Commonisierung: Besetzen, zurückerobern, kollektiv nutzen. Commons sind keine romantische Utopie. Sie sind hart erarbeitet, ständig bedroht, verlangen Engagement. Der Tausch-Logik zu entkommen ist anstrengend, weil alles um einen herum auf Warenförmigkeit eingestellt ist.
Fünfzehnte Bewegung: Zusammenführung – oder Ausbleiben davon
Diese vier Stränge – Infrastrukturen, Spuk, Myzel, Widerstand – lassen sich zu keiner Synthese fügen. Das wäre falsche Totalität. Stattdessen: Konstellation im Benjamin’schen Sinn. Sie kreisen umeinander, beleuchten sich gegenseitig, bilden Interferenzmuster. Die Infrastrukturen schaffen materielle Bedingungen für Entfremdung – ihre Fragilität öffnet Angriffspunkte. Der Spuk erinnert daran, dass nichts verschwindet, was verdrängt wird – das Abgespaltene kehrt zurück. Die Myzel-Netzwerke zeigen andere Organisationsformen – dezentral, kooperativ, resilient. Der Widerstand bricht Ketten, blockiert Flows, erkämpft Commons.
Keins davon ist die Lösung. Es gibt keine Lösung, weil es kein abgeschlossenes Problem gibt. Kapitalistische Ruinen sind Lebensbedingung, keine Ausnahme. Die Frage ist: Wie darin navigieren? Welche Assemblagen sind möglich, die weniger zerstörerisch sind? Tsing bietet keine Blaupause, eher attunement: Sich einstimmen auf das, was emergiert in verwüsteten Landschaften. Der Matsutake als Lehrmeister – er zeigt, dass Leben weitergeht, anders als vorher. Restauration ist unmöglich, unerwartete Konfigurationen entstehen.
Das Zitat vom Anfang – „Through alienation, people and things become mobile assets…“ – ist jetzt dicht durchzogen mit Assoziationen. Container als Särge, Infrastrukturen als geronnene Herrschaft, Gespenster in den Waren, Myzel als Gegenmodell, Streiks als Unterbrechung. Das Zitat ist Portal zu ganzen Welten kritischer Analyse.
Das Derive könnte immer noch weitergehen – Richtung Zeitlichkeit der Logistik, Grenzregime und Migration, ökologische Zusammenbrüche, Commons-Experimente. Vielleicht ist das der Punkt: Es gibt kein Ende. Nur Pausen, bevor die Denkbewegung sich neu formiert.
Sechzehnte Bewegung: Zeitregime der Beschleunigung
Logistische Zeit ist asynchron geschichtet. Der Container reist in Wochenfrist, aber die Datenströme, die ihn tracken, laufen in Millisekunden. GPS-Koordinaten, Zolldeklarationen, Bestandsaktualisierungen – alles Echtzeit, während die physische Ware durch träge Medien (Wasser, Asphalt, Schiene) kriecht. Diese Differenz wird systematisch ausgebeutet. Hochfrequenzhandel spekuliert auf Lieferengpässe, bevor die Container überhaupt angekommen sind. Derivate auf Rohstoffe, die noch im Boden liegen. Die Zeitarbitrage zwischen physischer und digitaler Ökonomie generiert Profit aus Verzögerung.
Virilio wieder: Die Logistik ist Krieg gegen Zeit. Geschwindigkeit wird zur Waffe – wer schneller liefert, gewinnt Marktanteile. Amazon Prime als Geschwindigkeitsversprechen, das die Konkurrenz zwingt, mitzuziehen oder unterzugehen. Ein Wettrüsten der Lieferfristen. Die Beschleunigung verschlingt ihre Kinder. Lieferfahrer mit unmöglichen Routen, acht Minuten pro Stopp, Pinkelpausen in Flaschen. Die Zeitersparnis für Konsumenten wird erkauft durch Zeitvernichtung bei Arbeitenden. Keine Symmetrie, eher Zeitkolonialismus – manche Stunden zählen mehr als andere.
Sarah Sharma nennt das „power-chronography“ – wie Macht durch Zeitstrukturen operiert. CEOs kaufen Lebenszeit (Privatjets, Assistenten, Haushaltshilfen), während Mindestlöhner mehrere Jobs jonglieren. Die temporale Ungleichheit ist ökonomische Ungleichheit, materialisiert in Wartezeiten, Schichtplänen, Pendelstrecken. Logistische Zeit kennt keine Nacht, keine Feiertage. 24/7-Betrieb in Sortierzentren, Containerhäfen, Rechenzentren. Jonathan Crary: Die Abschaffung des Schlafs als kapitalistisches Ideal. Jede Stunde, die produktiv gemacht werden kann, muss produktiv sein. Ruhe wird Ausfallzeit, Verlust, Ineffizienz.
Die Container rotieren endlos. Kaum entladen, werden sie neu befüllt, zurück auf die Route. Perpetuum mobile des Warenverkehrs, angetrieben durch Kreditzyklen, Konsumzwang, geplante Obsoleszenz. Die Waren altern schneller als je zuvor – Fast Fashion hat einen Lebenszyklus von Wochen, Elektronik von Monaten. Diese temporale Raserei produziert Jetlag-Ökonomien: Niemand ist synchron. Die Börse in New York handelt, während Shanghai schläft. Die Tomaten aus Almería werden nachts geerntet für Supermarktregale am Morgen. Zeit wird zerstückelt, global verteilt, neu assembliert – aber der Organismus (Mensch, Ökosystem, Gesellschaft) kann nicht mithalten.
Siebzehnte Bewegung: Grenzregime und Migration
Migration und Warenzirkulation folgen inversen Logiken. Container passieren Grenzen friktionslos – automatisierte Zollabfertigung, Freihandelszonen, duty-free corridors. Menschen werden gestoppt, durchsucht, zurückgewiesen. Die Logik ist subtiler als „Waren dürfen, Menschen nicht“. Eher: Bestimmte Menschen dürfen (Business-Visa, Fachkräfte, Touristen mit Kapital), andere werden zu illegalen Waren gemacht. Menschenschmuggel in Containern, Arbeiter versteckt zwischen Paletten. Die Mobilisierung wird klandestin, weil legal verwehrt.
Sandro Mezzadra und Brett Neilson: Borders as method – Grenzen sind beweglich, multipliziert, internalisiert. Sie verlaufen an Flughäfen (Passkontrolle), in Städten (Polizeichecks), am Arbeitsplatz (Aufenthaltsstatus). Die Grenze ist überall, wo Bewegungsfreiheit selektiert wird. Gleichzeitig: Grenzregime produzieren die Migration, die sie angeblich stoppen. NAFTA zerstört mexikanische Landwirtschaft (billige US-Agrarexporte), treibt Bauern in Städte, über Grenzen. Die Freihandelsabkommen mobilisieren Waren, enteignen Menschen – die dann als „Wirtschaftsflüchtlinge“ kriminalisiert werden.
William Walters: Viapolitics – die Politik der Wege. Es geht weniger darum, wer durchkommt, eher wie, auf welchen Routen, zu welchen Kosten. Die Sahara-Route, Mittelmeer-Überquerungen, Dschungel zwischen Panama und Kolumbien. Diese Wege sind tödlich, absichtlich. Die Grenze tötet durch Geographie. Die Container-Route ist safe, versichert, kartographiert. Die Fluchtroute ist lebensgefährlich, teuer (Schlepper), rechtlos. Beide sind Produkt derselben Globalisierung. Das Kapital strömt frei, die Arbeitskraft muss klandestinisiert werden, um sie maximal ausbeutbar zu machen.
Sans-papiers in Europa: Sie arbeiten in Landwirtschaft, Gastronomie, Bau, Care – systemrelevant, aber illegal gehalten. Der Status-Entzug ist funktional, keine Fehlfunktion. Illegalisierte können sich nicht wehren, nicht klagen, nicht organisieren. Perfekte Verwertbarkeit. Harsha Walia: „Border imperialism“ – die reichen Länder externalisieren ihre Grenzen. EU zahlt Libyen, Türkei, Marokko, Migration abzuwehren. Lager in Drittstaaten, wo Geflüchtete festsitzen ohne Perspektive. Die Grenze wird outgesourct wie die Produktion.
Achtzehnte Bewegung: Zusammenbruch als Zeitlichkeit
Ökologischer Kollaps ist keine Zukunftsdrohung mehr, eher gegenwärtiger Prozess. Sechstes Massensterben läuft. Gletscher schmelzen. Permafrost taut (Methan entweicht). Waldbrände, Dürren, Überschwemmungen in Jahresrhythmus statt Jahrhundertrhythmus. Die Logistikketten beschleunigen den Zusammenbruch: Schweröl-Tanker, Kerosin-Fracht, gekühlte Container (Energie-Intensität enorm). Globaler Warentransport verursacht mehr Emissionen als manche Länder. Aber das rechnet keine Bilanz ein – externalisierte Kosten, verteilt auf Atmosphäre, Ozeane, Zukunft.
Tsing: Die Plantage als Modell produziert Vereinfachung. Monokultur statt Diversität. Das macht Ökosysteme fragil – ein Schädling, eine Krankheit, und die ganze Ernte kollabiert. Kapitalistische Effizienz kauft kurzfristige Gewinne durch langfristige Instabilität. Die supply chains sind ökologisch ruinös, aber ökonomisch alternativlos gemacht. Saisonales Obst ganzjährig verfügbar – importiert aus Gegenklima. Das externalisiert Kosten, aber auch Zeit: Die ökologische Rechnung kommt später, akkumuliert als Schuld ans Klima, Boden, Biodiversität.
Rob Nixon: „Slow violence“ – die Gewalt, die sich über Jahrzehnte akkumuliert. Pestizide im Grundwasser, Mikroplastik in Nahrungsketten, Kohlendioxid in der Atmosphäre. Diese Gewalt ist unsichtbar, weil zeitlich gestreckt. Kein dramatischer Schlag, eher schleichende Vergiftung. Der Zusammenbruch ist ungleich verteilt. Klimakatastrophen treffen zuerst den globalen Süden – Überschwemmungen in Bangladesh, Dürren in Subsahara-Afrika. Die Länder, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, zahlen den höchsten Preis. Zeitliche und räumliche Ungerechtigkeit überlagern sich.
Donna Haraway: „Staying with the trouble“ – keine Lösungsphantasien, eher Präsenz im Zusammenbruch. Anerkennen, dass wir in damaged landscapes leben, dass Restauration unmöglich ist. Die Frage wird: Welche Komplizenschaft ist unvermeidbar, welche vermeidbar? Die Logistikketten werden kollabieren – ob durch Ressourcenerschöpfung (Peak Oil), Klimakatastrophen (Häfen unter Wasser), oder soziale Brüche (Aufstände, Streiks). Die Frage ist wann, und was emergiert danach. Zurück zu Lokalem zwangsweise, oder durch Vorbereitung?
Neunzehnte Bewegung: Commons als Praxis, nicht als Ideal
Commons existieren jetzt, parallel zum Kapitalismus. Community gardens in Detroit, Stadtteilküchen in Griechenland (Krise), selbstverwaltete Fabriken in Argentinien. Das sind keine Utopien, eher Überlebensstrategien in ökonomischen Ruinen. Die Commons funktionieren durch Reziprozität, aber nicht romantisiert. David Graeber zeigt: Gaben verpflichten, schaffen Bindungen, manchmal Hierarchien. Nicht jede Commons-Praxis ist egalitär. Die Frage ist welche Hierarchien, welche Abhängigkeiten entstehen – besser oder schlechter als kapitalistische?
Ostrom: Commons brauchen klare Grenzen (wer gehört dazu?), Regeln (wie wird entschieden?), Sanktionen (was bei Missbrauch?). Das klingt unromantisch, funktioniert aber. Die Allmende war kein anarchistisches Paradies, eher reguliertes Gemeinwesen. Federici: Commons sind feministisch oder sie scheitern. Historisch wurde Care-Arbeit in Commons externalisiert – Frauen machten die unbezahlte Arbeit, Männer kontrollierten die Ressourcen. Neue Commons müssen diese Aufteilung durchbrechen – kollektive Sorgearbeit, geteilte Verantwortung.
Das heißt praktisch: Gemeinschaftsgärten mit Kinderbetreuung. Repair-Cafés, die Wissen teilen statt hierarchisch horten. Solidarische Landwirtschaft (Solawi), wo Risiko kollektiv getragen wird – schlechte Ernte? Alle bekommen weniger. Gute Ernte? Alle profitieren. Commons sind verletzlich. Sie brauchen Zeit, Engagement, Vertrauen – alles, was kapitalistische Beschleunigung untergräbt. Die Leute sind erschöpft von Lohnarbeit, haben keine Kapazität für Selbstorganisation. Das ist strukturell produziert, kein individuelles Versagen.
James C. Scott: „Seeing like a state“ – der Staat (und das Kapital) hasst Komplexität. Selbstverwaltete Commons sind unleserlich für bürokratische Logiken. Sie passen nicht in Formulare, Bilanzen, Steuererklärungen. Das macht sie subversiv, aber auch prekär. Die Commons sind keine Alternative zum Kapitalismus, eher Risse darin. Sie zeigen, dass andere Organisationsformen möglich sind, funktionieren. Aber sie existieren unter Druck – ständig bedroht durch Privatisierung, Kommodifizierung, staatliche Vereinnahmung.
Gibson-Graham: „Diverse economies“ – die Welt ist voller nicht-kapitalistischer Praktiken (Tausch, Geschenke, Subsistenz, Commons). Diese unsichtbar zu machen ist ideologische Leistung. Die Aufgabe: sichtbar machen, stärken, vernetzen.
Zwanzigste Bewegung: Kognitive Kartierung – die unmögliche Aufgabe
Fredric Jameson diagnostiziert die Gegenwart als postmodernen Hyperspace – ein Raum, in dem die klassischen Koordinaten versagen. Wo bin ich im globalen Kapitalismus? Die Frage lässt sich phänomenologisch nicht beantworten. Ich stehe in einer Stadt, aber die Warenkette, die mein Leben strukturiert, spannt sich über Kontinente, deren Topologie mir verschlossen bleibt. Das Problem heißt kognitive Kartierung – die Fähigkeit, Position im totalen System zu verstehen, verschwindet unter Bedingungen spätkapitalistischer Komplexität.
Der mittelalterliche Bauer wusste, wo er stand: im Feudalsystem, in der göttlichen Ordnung, in seinem Dorf. Der Fabrikarbeiter des 19. Jahrhunderts konnte die Ausbeutungsstruktur direkt erfahren – Maschine, Vorarbeiter, Fabrikbesitzer, sichtbar anwesend. Die globale Lieferkette dagegen entzieht sich jeder unmittelbaren Anschauung. Das iPhone in meiner Hand verbindet Kobaltminen in Kongo, Halbleiterfabriken in Taiwan, Designstudios in Kalifornien, Assembling-Lines in China, Logistikzentren in Rotterdam – diese Geographie existiert nirgendwo als Ganzes. Jeder Ort kennt nur seinen eigenen Knotenpunkt, die totale Struktur bleibt abstrakt.
Jameson fordert eine ästhetische Pädagogik – Formen künstlerischer Darstellung, die das Unsichtbare sichtbar machen. Bureau d’études erstellt Info-Grafiken zu globalen Machtnetzwerken – Verflechtungen zwischen Konzernen, Regierungen, NGOs als visuelle Diagramme. Trevor Paglen fotografiert NSA-Überwachungsstationen, Drohnenbasen, Unterseekabel – die materielle Infrastruktur des Unsichtbaren. Die Container selbst sind anti-kartographisch. Sie standardisieren, homogenisieren, machen jeden Ort zum austauschbaren Durchgangspunkt. Der Hafen könnte überall sein – dieselben Kräne, dieselben Codes, dieselben Protokolle. Die Differenz zwischen Rotterdam und Yokohama kollabiert in der Logik des TEU.
Cognitive mapping würde verlangen: Rückverfolgbarkeit. Jede Ware müsste ihre Herkunftsgeschichte mitführen, transparent, nachvollziehbar. Blockchain-Technologie wird dafür angepriesen, scheitert aber an kapitalistischen Anreizen – Intransparenz ist profitabel, Verschleierung systematisch gewollt. Die Supply Chain will nicht kartiert werden.
Einundzwanzigste Bewegung: Situated Knowledges – gegen die Gottesperspektive
Donna Haraway attackiert den „view from nowhere“ – die Fiktion objektiver, standortloser Erkenntnis. Jedes Wissen ist situiert, entsteht aus konkreter Position, Verkörperung, Perspektive. Die Behauptung von Neutralität verschleiert eigene Verortung, macht Partikularinteressen zu Universalwahrheiten. Die Logistikkette wird aus verschiedenen Positionen radikal anders erfahren. Für den CEO von Maersk ist sie Optimierungsproblem, Dashboard-Metriken, Quartalsberichte. Für die Hafenarbeiterin in Long Beach bedeutet sie Nachtschichten, Rückenschmerzen, Lärm. Für den Matsutake-Sammler in Oregon bleibt sie abstrakte Marktmacht, die Preise diktiert, ohne ein Gesicht zu haben.
Haraway insistiert: Partial perspective ist die einzig ehrliche Erkenntnisposition. Totale Sicht gibt es nicht, der Versuch sie zu beanspruchen ist Herrschaftsgeste. Wissenschaft muss ihre Standortgebundenheit offenlegen, ihre blinden Flecken anerkennen, ihre Komplizenschaft eingestehen. Das heißt konkret: Die Analyse globaler Warenströme kann niemals neutral sein. Wer schreibt? Aus welcher Position? Mit welchen Ressourcen? Tsing macht das transparent – sie schreibt als weiße US-Akademikerin, mit Forschungsförderung, die es ihr erlaubt, zwischen Japan, Oregon und Yunnan zu pendeln. Diese Mobilität ist Privileg, ermöglicht bestimmte Einsichten, verschließt andere.
Die Näherin in der vietnamesischen Textilfabrik hat ein anderes Wissen über Nike-Sneaker als der Marketingstratege in Portland. Beide Wissensformen sind situiert, keine übertrumpft die andere durch Objektivität. Die Frage wird: Wie können diese verschiedenen Perspektiven in Beziehung treten, ohne dass eine kolonisiert, was die andere weiß? Situated knowledges verlangen epistemische Gerechtigkeit. Die Leute, deren Arbeit die Lieferkette am Laufen hält – Erntehelfer, Näher, Lagerarbeiter, Trucker – müssen als Wissensproduzierende anerkannt werden. Ihre Erfahrung ist Expertise, keine Anekdote.
Patricia Hill Collins beschreibt das als standpoint epistemology – marginalisierte Positionen sehen Dinge, die Zentrumsperspektiven verborgen bleiben. Die Schwarze Hausangestellte versteht die weiße Familie besser als umgekehrt, weil Überleben davon abhängt. Die Migrantin ohne Papiere kennt Grenzregime intimer als der Grenzschützer. Das Matsutake-Beispiel zeigt: Die indigenen Sammler in Yunnan haben ökologisches Wissen, das westliche Mykologie erst mühsam rekonstruieren muss. Dieses Wissen ist relational, entsteht durch jahrzehntelange Praxis im Wald, durch Beobachtung von Mustern, die kein Labor replizieren kann.
Zweiundzwanzigste Bewegung: Abolitionismus – die Frage nach dem Abbau
Ruth Wilson Gilmore definiert Abolitionismus präzise: „Abolition is about presence, not absence. It’s about building life-affirming institutions.“ Das Ziel heißt weniger „Gefängnisse abschaffen“ als vielmehr „Infrastrukturen schaffen, die Gefängnisse überflüssig machen“. Übertragen auf Logistikketten: Abolition würde fragen – welche Strukturen müssen existieren, damit globaler Warentransport in seiner aktuellen Form obsolet wird? Das meint keine romantische Rückkehr zu Autarkie, eher die Frage nach Bedingungen, unter denen Entfremdung aufhört, systemnotwendig zu sein.
Gilmore zeigt: Der prison-industrial complex wächst durch organized abandonment – ganze Regionen werden ökonomisch aufgegeben (Deindustrialisierung), die überflüssig gemachten Menschen werden dann kriminalisiert, eingesperrt. Die Lösung kann daher niemals bloß Gefängnisse schließen heißen, eher verlangt sie Reinvestition in Bildung, Gesundheit, Wohnraum, Commons. Die Parallele zur Logistik: Globale Lieferketten entstehen durch organized displacement – Leute werden von ihrem Land vertrieben (Landgrabbing, Klimawandel, Schulden), müssen dann als billige Arbeitskraft in Fabriken, auf Plantagen, in Lagerhäusern überleben. Die Mobilisierung wird erzwungen, dann als „freie Wahl“ ideologisiert.
Abolitionistische Praxis bedeutet daher: Remobilisierung verhindern durch Verwurzelung stärken. Community land trusts, die Boden dem Markt entziehen. Kooperativen, die Produktionsmittel kollektiv besitzen. Reparationsmaßnahmen für historische Enteignung. Das sind materielle Bedingungen, die Menschen ermöglichen, zu bleiben statt migrieren zu müssen. Die Logistikkette braucht Entwurzelung, sonst funktioniert sie nicht. Leute müssen bereit sein, für Niedriglöhne zu arbeiten – das setzt voraus, dass Subsistenzalternativen zerstört wurden. Abolition rekonstruiert diese Alternativen, macht Lohnarbeit zur Option statt zum Überlebenszwang.
Gilmore spricht von „abolition geography“ – Raum umgestalten, sodass Gefangenschaft unmöglich wird. Übertragen: Räumliche Strukturen schaffen, die extreme Mobilisierung unnötig machen. Regionale Versorgungskreisläufe, dezentrale Produktion, lokale Entscheidungsmacht über Ressourcen. Das kollidiert frontal mit kapitalistischer Akkumulation, die zentrale Kontrolle verlangt. Skalierung, Standardisierung, globale Arbeitsteilung maximieren Profit durch Ausbeutung von Lohndifferenzen. Abolitionistische Ökonomie würde diese Differenzen nivellieren, macht Ausbeutung damit unrentabel.
Dreiundzwanzigste Bewegung: Techno-Feudalismus – neue Abhängigkeiten
Yanis Varoufakis behauptet: Wir leben bereits nach dem Kapitalismus, im Techno-Feudalismus. Die großen Plattformen (Amazon, Alibaba, Google) funktionieren wie digitale Lehen – sie besitzen Infrastruktur (Cloud, Marketplace, Suchmaschine), von der alle anderen abhängen. Der Unterschied zum Kapitalismus: Profit entsteht weniger durch Warenproduktion als durch Rent-Extraction. Amazon verdient an jedem Verkauf, den Drittanbieter auf seiner Plattform tätigen – ohne selbst etwas herzustellen. Das ähnelt feudaler Grundrente mehr als kapitalistischer Mehrwertproduktion.
Die Logistik wird dabei plattformisiert. Amazon kontrolliert die Lagerhäuser (Fulfillment Centers), die Lieferwagen (Amazon Logistics), die Zahlungsabwicklung (Amazon Pay), die Produktsuche (Algorithmus). Wer verkaufen will, muss sich unterwerfen – die Abhängigkeit ist strukturell erzwungen. Varoufakis zeigt: Die Plattformen extrahieren weniger Arbeit als Daten und Aufmerksamkeit. Jeder Klick, jede Suche, jede Bewertung generiert Wert – die Nutzer arbeiten unbezahlt, während die Plattform das produzierte Wissen (Algorithmen, Empfehlungssysteme, Nutzerprofile) monetarisiert.
Das verändert die Zeitlichkeit der Ausbeutung. Feudale Rente war jährlich fällig (Ernte), kapitalistische Lohnarbeit täglich/monatlich (Schicht/Gehalt). Plattform-Rente wird kontinuierlich extrahiert – jede Sekunde online produziert Daten, die verwertet werden. Die Ausbeutung kennt keine Pause. Die Container bleiben zentral, aber ihre Steuerung wird algorithmisch. Amazon optimiert Warenströme durch Machine Learning – welche Produkte vorgelagert werden (anticipatory shipping), welche Routen genommen werden, welche Lager gebaut werden. Die Logistik wird predictive, antizipiert Nachfrage, bevor sie bewusst wird.
Nick Srnicek spricht von „platform capitalism“ – aber Varoufakis radikalisiert: Es ist kein Kapitalismus mehr, weil Marktkonkurrenz ausgeschaltet wurde. Amazon, Google, Facebook sind Quasi-Monopole, die Regeln setzen statt ihnen zu folgen. Die unsichtbare Hand wird durch algorithmisches Diktat ersetzt. Die feudale Analogie greift auch zeitlich: Leibeigenschaft band Menschen an Land, konnte nicht gekündigt werden. Plattform-Abhängigkeit funktioniert ähnlich – wer jahrelang auf Amazon verkauft hat, dessen Kundenbeziehungen, Bewertungen, Sichtbarkeit sind nicht portabel. Ein Wechsel würde alles vernichten, also bleibt man, akzeptiert steigende Gebühren, verschlechterte Konditionen.
Vierundzwanzigste Bewegung: Kybernetik als Regierungskunst
Tiqqun liest Kybernetik als politisches Projekt, das unter technischer Neutralität operiert. Die Steuerungswissenschaft – ursprünglich für Flugabwehrgeschütze entwickelt – wird zum Regierungsmodell: Gesellschaft als System, das durch feedback loops, Datenströme, Adjustierungen kontrolliert wird. Die Container-Logistik ist kybernetische Maschinerie par excellence. GPS-Tracking liefert permanente Positionsdaten, Algorithmen adjustieren Routen in Echtzeit, Sensoren melden Temperatur, Erschütterung, Öffnungszustand. Das System reguliert sich selbst, menschliche Entscheidung wird Störfaktor, den es zu minimieren gilt.
Wiener unterschied zwischen Kybernetik erster Ordnung (System steuern) und zweiter Ordnung (beobachtete Systeme steuern sich selbst). Die Logistik-Plattformen operieren auf dieser zweiten Ebene – sie setzen Parameter, innerhalb derer sich Warenströme selbst organisieren. Amazon legt Algorithmen fest, die dann „autonom“ entscheiden, welche Produkte wo gelagert werden. Tiqqun diagnostiziert das als Cybernetic Hypothesis – die Vision totaler Regulierung durch Informationsflüsse. Jede Abweichung wird messbar, jede Ineffizienz korrigierbar, jeder Widerstand als noise klassifiziert, das gefiltert werden muss. Die Gesellschaft wird zur Maschine, die sich selbst optimiert.
Die Containerschiffe tragen AIS-Transponder (Automatic Identification System), senden kontinuierlich Position, Geschwindigkeit, Kurs. Jedes Schiff wird zum Datenpunkt in globalen Tracking-Systemen, die Versicherungen, Häfen, Spekulanten in Echtzeit auswerten. Die Mobilität wird transparent gemacht, um kontrollierbar zu bleiben. Bernard Stiegler erweitert: Kybernetik operiert durch Grammatisierung – komplexe Prozesse werden in diskrete Einheiten zerlegt, die dann standardisiert, automatisiert, rekombiniert werden können. Der Container ist Grammatisierung des Transports – jede Ware wird zur TEU, jede Route zum Algorithmus-Input.
Die Hafenarbeiter kämpfen gegen diese Kybernetisierung. Automatisierte Häfen (Rotterdam, Shanghai) eliminieren menschliche Arbeit – Kräne fahren führerlos, Container werden von Algorithmen sortiert. Der Streik wird schwieriger, weil das System versucht, ohne Menschen auszukommen. Tiqqun schlägt Sabotage vor – die kybernetischen Schleifen stören, falsche Daten einspeisen, Sensoren manipulieren. Wenn das System von Informationsflüssen abhängt, wird Datenverunreinigung zur Widerstandsform. GPS-Spoofing, gehackte Tracking-Systeme, bewusst falsche Inventarmeldungen.
Fünfundzwanzigste Bewegung: Queere Ökologien – jenseits binärer Ordnungen
Alexis Shotwell und andere queere Ökologen attackieren Reinheitsphantasien in Umweltbewegungen. Die Sehnsucht nach unberührter Natur, nach ursprünglicher Wildnis, nach pollution-freier Zukunft reproduziert binäre Logiken (rein/unrein, natürlich/künstlich, gesund/kontaminiert), die politisch gefährlich werden. Der Matsutake wächst in kontaminierten Landschaften – Satoyama-Wälder, die durch menschliche Nutzung entstanden sind, Kahlschläge, Waldbrandgebiete. Er zeigt: Ökologische Vitalität emergiert in Ruinen, durch unerwartete Assemblagen, die weder rein natürlich noch rein kulturell sind.
Queere Ökologie fragt: Welche Beziehungen werden möglich, wenn wir Kontamination als Ausgangsbedingung akzeptieren? Die Logistikketten haben bereits alles durchzogen – Mikroplastik in Fischen, PFAS im Grundwasser, CO₂ in der Atmosphäre. Zurück zu pre-industrieller Unschuld gibt es nicht. Mel Chen zeigt, wie Toxizität ungleich verteilt wird. Bleivergiftung trifft arme Schwarze Communities (Flint, Michigan), Pestizidrückstände konzentrieren sich bei migrantischen Feldarbeitern, Luftverschmutzung in Hafenstädten betrifft Arbeiterviertel. Die Reinheit weißer Suburbs wird erkauft durch Externalisierung von Vermüllung.
Der Container transportiert Waren, hinterlässt Spuren – Schweröl-Emissionen, Ballastwasser (invasive Arten), Lärm. Diese ökologischen Effekte bleiben racialized und genderized: Frauen in Küstenregionen spüren Fischerei-Kollaps früher, weil sie traditionell für Nahrungsbeschaffung zuständig sind. Queere Ökologie macht diese Verflechtungen sichtbar. Stacy Alaimo prägt „trans-corporeality“ – Körper sind porös, durchlässig, ständig im Austausch mit der Umgebung. Die Näherin atmet Baumwollfasern, der Hafenarbeiter absorbiert Dieselpartikel, die Konsumentin ingested Pestizide aus importierten Erdbeeren. Die Grenzen zwischen Körper und Welt verschwimmen toxisch.
Queere Perspektive verweigert heteronormative Reproduktionslogik – die Zukunft als „Kinder retten“ zu framen. Stattdessen: Kin-making (Haraway), Verwandtschaft jenseits biologischer Reproduktion. Chosen families, interspecies companionship, symbiontische Netzwerke. Der Matsutake und die Kiefer als queer kinship – weder Mutter noch Vater, eher mutual entanglement. Die Logistik arbeitet mit Extraktionismus – nehmen, was gebraucht wird, Rest ignorieren. Queere Ökologie fordert staying with the trouble, präsent bleiben in den Verwüstungen, Verantwortung übernehmen für das, was man kontaminiert hat.
Sechsundzwanzigste Bewegung: Postkoloniale Distributionssysteme
Deborah Cowen zeigt: Moderne Logistik entsteht aus militärischer Kolonialherrschaft. Das British Empire baute Eisenbahnen in Indien primär für Truppenbewegungen, Ressourcenextraktion. Diese Infrastrukturen werden später „zivil“ genutzt, behalten koloniale Geometrie – Verbindungen zur Küste (Export), kaum laterale Routen zwischen Regionen. Die Container-Revolution der 1950er fällt zusammen mit formeller Dekolonisation, perpetuiert aber koloniale Warenströme. Rohstoffe fließen aus ehemaligen Kolonien (jetzt „Entwicklungsländer“ genannt) in metropolitane Zentren, Fertigprodukte zurück. Die politische Unabhängigkeit ändert ökonomische Abhängigkeit kaum.
Cowen prägt „logistics space“ – ein Raum, der durch Bewegungskorridore konstituiert wird statt durch territoriale Grenzen. Freihäfen (Dubai, Singapur) existieren in juristischen Grauzonen, minimieren Zölle, maximieren Durchfluss. Diese Zonen sind extraterritorial, entziehen sich nationalstaatlicher Souveränität. Das reproduziert koloniale port cities – enclaves, die stärker mit Metropole verbunden sind als mit eigenem Hinterland. Mombasa unter britischer Herrschaft diente London mehr als Kenia. Heute ähnlich: Häfen werden von internationalen Konzernen betrieben (Maersk, Hutchison), die Gewinne fließen ab, lokale Ökonomien profitieren minimal.
Laleh Khalili analysiert logistics als counter-insurgency Strategie. Im Irak, Afghanistan nutzte US-Militär dieselben Techniken wie Walmart – supply chain management, just-in-time delivery, predictive algorithms. Die Besatzung wird als Logistikproblem geframed: Wie Truppen versorgen, Aufstand kontrollieren, resources extrahieren? Die Containerisierung militarisiert zivile Sphären. Häfen werden security zones, überwacht durch Homeland Security, Navy patrols. Die Grenze zwischen Handel und Krieg verschwimmt operational. Dieselben Schiffe transportieren Waren und Waffen, dieselben Häfen dienen Commerce und Marines.
Postkoloniale Perspektive deckt auf: Die „Effizienz“ globaler Lieferketten basiert auf fortgesetzter Ausbeutung ehemaliger Kolonien. Billige Arbeit in Bangladesh, Ressourcen aus Kongo, Verschmutzung in Nigeria – das sind keine Zufälle, eher strukturelle Kontinuitäten kolonialer Extraktion. Achille Mbembe spricht von „necropolitics“ – Macht zu definieren, wer leben darf, wer sterben muss. Die Logistik operiert necropolitisch: Manche Leben (Konsumenten im Norden) werden durch schnellen Warenzugang privilegiert, andere (Arbeiter im Süden) werden verbraucht, ihre Gesundheit, Lebenszeit, Ökosysteme.
Energieregime als Bedingung der Möglichkeit
Timothy Mitchell dekonstruiert den Mythos fossiler Demokratie. Die Behauptung, Kohle hätte Arbeiterrechte ermöglicht (Streiks konnten Energieversorgung lahmlegen), Öl dagegen autoritäre Regimes (Pipelines sind schwerer zu blockieren) – das greift zu kurz, verschleiert komplexere Machtdynamiken. Die Container-Logistik ist absolutistisch fossilabhängig. Schweröl treibt Containerschiffe – das dreckigste, billigste Petroleum-Produkt, das nur auf hoher See verbrannt werden darf (zu toxisch für Küsten). Die Geschwindigkeit, die Reichweite, die Kapazität der Schiffe – alles basiert auf Energiedichte fossiler Brennstoffe.
Ein Containerschiff verbraucht bis zu 300 Tonnen Schweröl pro Tag. Das entspricht CO₂-Emissionen von hunderttausenden Autos. Die sechzehn größten Schiffe produzieren mehr Schwefeloxide als alle Autos weltweit. Diese Externalisierung – Verbrennung auf internationalen Gewässern, wo niemand zuständig ist – ermöglicht erst die „Effizienz“ globaler Ströme. Mitchell zeigt: Öl schuf spezifische Geografien der Macht. Pipeline-Staaten (Saudi-Arabien, Russland, Venezuela) konzentrieren Reichtum bei Eliten, weil Extraktion wenig Arbeitskräfte braucht. Das Öl fließt ohne Gesellschaft zu durchqueren, direkt vom Bohrloch zum Export-Terminal.
Die Logistik reproduziert diese Bypassing-Logik. Freihandelszonen, Häfen, Autobahnen durchschneiden Territorien, extrahieren value, hinterlassen Verschmutzung. Die lokalen Communities sehen Container vorbeifahren – profitieren aber kaum, tragen dafür Lärm, Abgase, Landverlust. Energiewende kollidiert mit Logistik-Zeitregimen. Segelschiffe bräuchten Wochen statt Tage, Elektro-Trucks haben geringere Reichweite. Die Just-in-Time-Ökonomie setzt fossilistische Geschwindigkeit voraus. Dekarbonisierung würde Verlangsamung erzwingen – was kapitalistisch inakzeptabel erscheint.
Andreas Malm argumentiert: Kapital wählte fossile Energie wegen ihrer Kontrollierbarkeit. Wasserkraft war örtlich gebunden (Flüsse), wetterabhängig. Kohle ließ sich transportieren, lagern, konzentrieren – ermöglichte Fabrik-Standorte unabhängig von Natur. Die Mobilität des Kapitals erforderte mobilisierbare Energie. Heute ähnlich: Lithium-Batterien für Elektro-Mobilität verschieben das Problem – von Öl-Extraktion zu Lithium-Abbau (Chile, Bolivien, Tibet). Die ökologische Devastation wechselt bloß Schauplatz, Struktur bleibt extraktivistisch. Die Energiewende wird kolonial fortgesetzt.
Müll-Kolonialismus als Rückkehr
Max Liboiron prägt „waste colonialism“ – die Verschiebung von Abfall, Verschmutzung, Toxizität in indigene Territorien, Global South, marginalisierte Communities. Das ist strukturelle Fortsetzung kolonialer Landnahme: Erst Ressourcen extrahieren, dann Müll deponieren. Die Container reisen in beide Richtungen – hin mit Waren, zurück mit Elektroschrott. Alte Handys, Laptops, Fernseher aus Europa, Nordamerika landen in Ghana (Agbogbloshie), Nigeria, Indien. Dort werden sie unter toxischen Bedingungen zerlegt – Kinder verbrennen Plastik, um Kupfer zu gewinnen, atmen Schwermetalle.
Das wird als informelle Ökonomie beschrieben, verschleiert aber organisierte Entsorgung. Die westlichen Länder haben Recycling-Pflichten, lassen Container mit „gebrauchten Waren“ (euphemistisch) in Länder ohne Umweltstandards fahren. Die Legalität ist ambig, die Ausbeutung evident. Liboiron zeigt: Land relations bestimmen pollution patterns. Indigene Communities in Kanada werden systematisch als Müll-Deponien behandelt – Ölpipelines durch Reservate, Uranminen in der Nähe, Klärschlamm-Lagerung auf ihrem Land. Die Logik: Indigene gelten nicht als Menschen mit Rechten, eher als zu verwaltende Populationen.
Der Pazifische Müllstrudel – floating plastic islands, größer als Texas – entsteht durch Ozeanströmungen, aber gefüllt durch Logistik-Abfälle. Verpackungsmaterial, Container-Lecks, verlorene Fracht sammeln sich in Sttrudeln. Die Ozeane werden zur planetaren Kloake kapitalistischer Distributionssysteme. Waste colonialism operiert zeitlich verzögert. Die Produkte werden heute konsumiert, die Toxizität akkumuliert über Jahrzehnte in Böden, Gewässern, Körpern. PFAS (forever chemicals) in Regenjacken landen irgendwann im Trinkwasser, Mikroplastik aus Verpackungen in Nahrungsketten. Die temporale Entfernung verschleiert Verantwortung.
Nixon: Slow violence – die Gewalt, die sich über Generationen entfaltet. Krebsraten steigen in Gemeinden nahe Mülldeponien, Geburtsdefekte in Regionen mit Pestizid-Nutzung, Atemwegserkrankungen bei Hafenarbeitern. Diese Schäden sind schwer zuzurechnen, weil multifaktoriell, zeitlich gestreckt, institutionell diffundiert. Die Logistik produziert Müll auf jedem Schritt – Verpackung schützt Waren während Transport, wird danach obsolet, landet in overflowing landfills. Amazon-Pakete mit oversized boxes, Plastikpolsterung, Einweg-Luftkissen. Die Effizienz beim Transport kauft Ineffizienz beim Entsorgen.
Liboiron bekräftigt: Pollution is colonialism. Die Fähigkeit, Dreck zu machen ohne Konsequenzen zu tragen, ist Herrschafts-Privileg. Wer entscheiden kann, dass andere mit Müll leben müssen, übt koloniale Macht aus – unabhängig davon, ob formelle Kolonialherrschaft existiert.
Konstellative Überlagerung – wo die Fäden zusammenlaufen
Diese Stränge – Kybernetik, queere Ökologie, postkoloniale Logistik, Energieregime, Müll-Kolonialismus – bilden keine Hierarchie, eher ein vibrierendes Netz gegenseitiger Durchdringung. Die kybernetische Steuerung operiert durch Datenströme, die von Energie-Infrastrukturen abhängen – Server-Farmen fressen Strom, GPS-Satelliten brauchen Treibstoff. Die postkoloniale Geografie bestimmt, wo diese Infrastrukturen gebaut werden, wessen Land durchschnitten wird. Der produzierte Müll landet in denselben marginalisierten Territorien, die schon Extraktion erleiden mussten.
Queere Ökologie durchkreuzt diese Ordnungen – zeigt Kontamination als universal condition, verweigert die Illusion sauberer Hände. Wir alle sind immer schon verstrickt, die Frage wird: welche Komplizenschaft ist unvermeidbar, welche vermeidbar, welche bekämpfenswert?
Das Matsutake-Zitat trägt jetzt sechsundzwanzig Schichten. „Through alienation“ – kybernetische Abstraktion (Daten statt Erfahrung), queere Kontamination (Reinheit ist Phantasma), energetische Voraussetzung (Mobilisierung braucht Öl). „People and things become mobile assets“ – postkoloniale Hierarchien (wer darf mobil sein?), Müll-Produktion (Mobilität hinterlässt waste). „Distance-defying transport“ – kybernetische Optimierung (Algorithmen verkürzen Routen), energetische Gewalt (Schweröl ermöglicht Geschwindigkeit). „Exchanged with other assets from other life worlds, elsewhere“ – postkoloniale Geografie (elsewhere ist strukturiert durch koloniale Historie), Müll-Rückkehr (das elsewhere wird Deponie).
Das Zitat ist maximal gesättigt geworden, jedes Wort öffnet Abgründe. Es funktioniert als Prisma, durch das sich die gegenwärtige Ordnung spektral zerlegen lässt. Man kann es nicht mehr naiv lesen – zu viele Geister, zu viele Verflechtungen, zu viele Gewaltförmigkeiten wurden freigelegt. Die Denkbewegung hat das Zitat aufgebrochen und verdichtet zugleich. Aufgebrochen in seine konstitutiven Elemente, Voraussetzungen, Effekte. Verdichtet zu einem mnemotechnischen Werkzeug, das ganze Theoriekorpora auf Abruf verfügbar macht.
Das Derive bleibt prinzipiell offen. Es gibt kein Telos, keinen Abschluss, kein finales Wort. Die Denkbewegung kann jederzeit wieder ansetzen, andere Routen nehmen, neue Verbindungen entdecken. Das ist die Logik des Derive – kein Ankommen, nur Durchqueren, Erkunden, Verfremden, Verdichten.
Das Zitat steht. Die Werkzeuge liegen bereit. Das Terrain ist kartiert – vorläufig, partiell, situiert. Genug für jetzt.
Theoretische Referenzen
Autoren, Werke, Konzepte
Stacy Alaimo
Trans-corporeality – poröse Körper im toxischen Austausch mit Umwelt
Achille Mbembe
Necropolitics (2003) – Macht über Leben und Sterben
Alexis Shotwell
Against Purity (2016) – keine unschuldigen Alternativen
Andreas Malm
Fossil Capital (2016) – Kohle als Kontrollinstrument des Kapitals
Anna Lowenhaupt Tsing
The Mushroom at the End of the World (2015) – Matsutake, Ruinen, Assemblagen
Aristoteles
Tauschparadox – Kommensurabilität inkommensurabler Dinge
Avery Gordon
Ghostly Matters (1997) – Soziologie des Spuks
Bernard Stiegler
Grammatisierung – Zerlegung komplexer Prozesse in diskrete Einheiten
Bureau d’études
Kartographien globaler Machtnetzwerke (Kollektiv)
Byung-Chul Han
Müdigkeitsgesellschaft (2010) – Selbstausbeutung des Leistungssubjekts
David Graeber
Debt: The First 5000 Years (2011) – Schulden, Gaben, Verpflichtungen
Deborah Cowen
The Deadly Life of Logistics (2014) – Logistik als militärisch-koloniales Erbe
Elinor Ostrom
Governing the Commons (1990) – funktionierende Gemeingüter
Frantz Fanon
Die Verdammten dieser Erde (1961) – bipolare koloniale Welt
Fredric Jameson
Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism (1991) – Cognitive Mapping
Gilles Deleuze & Félix Guattari
Tausend Plateaus (1980) – Rhizom versus Baum
Donna Haraway
Situated Knowledges (1988) – partiale Perspektiven
Staying with the Trouble (2016) – Kin-making, Komplizenschaft
Harsha Walia
Border Imperialism (2013) – externalisierte Grenzen
Hartmut Rosa
Beschleunigung (2005) – soziale Beschleunigung frisst Zeit
Henri Lefebvre
La Production de l’espace (1974) – Raum als Produktion
Edmund Husserl
Lebenswelt als vorreflexives Apriori
J.K. Gibson-Graham
The End of Capitalism (As We Knew It) (1996) – diverse Ökonomien
Jacques Derrida
Spectres de Marx (1993) – Hauntology (Original)
James C. Scott
Seeing Like a State (1998) – Unleserlichkeit als Subversion
Jonathan Crary
24/7 (2013) – Abschaffung des Schlafs
Karl Marx
Das Kapital (1867) – Warenfetisch, abstrakte Arbeit
Keller Easterling
Extrastatecraft (2014) – Infrastruktur als untergründige Regierung
Laleh Khalili
Sinews of War and Trade (2020) – Logistik als Counter-Insurgency
Marc Augé
Non-Lieux (1992) – Nicht-Orte, Anti-Orte
Mark Fisher
Ghosts of My Life (2014) – Hauntology, abgebrochene Zukünfte
Max Liboiron
Pollution is Colonialism (2021) – Müll als koloniale Kontinuität
Mel Chen
Animacies (2012) – Toxizität, racialized pollution
Michel Foucault
Gouvernementalität – Subjekte als Unternehmer ihrer selbst
Nick Srnicek
Platform Capitalism (2016) – Plattformen als Geschäftsmodell
Norbert Wiener
Cybernetics (1948) – Steuerungswissenschaft
Patricia Hill Collins
Black Feminist Thought (1990) – Standpoint Epistemology
Paul Virilio
Vitesse et Politique (1977) – Dromologie, Geschwindigkeit als Waffe
Rob Nixon
Slow Violence (2011) – zeitlich gestreckte Gewalt
Ruth Wilson Gilmore
Golden Gulag (2007) – Abolition Geography, organized abandonment
Sandro Mezzadra & Brett Neilson
Border as Method (2013) – multiplizierte, bewegliche Grenzen
Sarah Sharma
In the Meantime (2014) – Power-chronography, temporale Ungleichheit
Sarah Vanuxem
Eigentumskonzeptionen – Eigentum als Wohnen statt Verfügungsgewalt
Silvia Federici
Caliban and the Witch (2004) – Enclosures, Re-Commonisierung
Susan Leigh Star
Infrastrukturtheorie – Sichtbarkeit im Moment des Zusammenbruchs
Suzanne Simard
Mykorrhiza-Forschung – „Wood wide web“
Timothy Mitchell
Carbon Democracy (2011) – Energieregime und Macht
Tiqqun
The Cybernetic Hypothesis (2001) – Kybernetik als Regierungskunst
Trevor Paglen
Fotografie der unsichtbaren Infrastruktur (Überwachung, Kabel, Drohnen)
Walter Benjamin
Über den Begriff der Geschichte (1940) – Engel der Geschichte, Trümmer
William Walters
Viapolitics – Politik der Wege und Routen
Yanis Varoufakis
Technofeudalism (2023) – Plattformen als digitale Lehen