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Systemisches Gaslighting

Systemisches Gaslighting ist kein Bug, sondern ein Feature. Gitta Peyns FORMWELT-Analyse trifft auf Miranda Frickers epistemische Ungerechtigkeit und Byung-Chul Hans Psychopolitik: Wie Konditionierung uns beibringt, unserer Wahrnehmung zu misstrauen – und warum neurodiverse Menschen die Sensoren sind, nicht die Gestörten.

Théorie-Dérive: Systemisches Gaslighting

Die Enteignung des Wissens

Systemisches Gaslighting – wenn nicht Personen, sondern Institutionen Menschen beibringen, ihrer Wahrnehmung zu misstrauen

Die Methode folgt situationistischer Praxis: Umherschweifen durch Begriffslandschaften, geleitet von affektiver Resonanz statt linearer Argumentation – Schneisen schlagen, die andere nutzen können.


I. Eintritt – Die Irritation der Normalität

Das Wort stammt aus dem Theater. In Patrick Hamiltons Stück von 1938 redet ein Ehemann seiner Frau ein, das Flackern der Gaslampen sei Einbildung – während er selbst am Regler dreht. Die Pathologie wurde zum Begriff: Gaslighting bezeichnet seitdem die gezielte Destabilisierung der Wahrnehmung eines anderen. Der Täter orchestriert die Verwirrung, das Opfer zweifelt am eigenen Verstand.

Doch was, wenn der Regler nicht von einer Person bedient wird? Was, wenn das Flackern System hat – wenn ganze Institutionen, Bildungsprozesse, gesellschaftliche Konditionierungen darauf angelegt sind, Menschen beizubringen, ihrer Wahrnehmung zu misstrauen? Gitta Peyn spricht von systemischem Gaslighting und meint damit etwas Fundamentaleres als die Addition vieler individueller Manipulationen. Die Lampen flackern für alle – aber wer es bemerkt, gilt als gestört.

Für die Mehrheit ist systemisches Gaslighting unsichtbar, weil es zur Grundstruktur ihrer Wirklichkeitsemulation gehört. Sie spüren die Diskrepanzen zwischen dem, was sie wahrnehmen, und dem, was als wahrnehmbar gilt, nicht mehr. Die Bildungssysteme haben ganze Arbeit geleistet. Wer jedoch neurodivers denkt, wer die Schichten der Konditionierung noch spürt – für den ist systemisches Gaslighting alles. Der Riss geht mitten durch die Welt.

Das Dérive durchquert fünf Territorien: Peyns Formwelt-Systematik, Miranda Frickers Kartographie epistemischer Ungerechtigkeit, Byung-Chul Hans Analytik psychopolitischer Selbstausbeutung, die daoistische Tradition als Komplikation, und die Frage nach dem Gebrauchswert alter Texte. Die Passage sucht keine Synthese – sie ertastet Resonanzen, markiert Dissonanzen, lässt Formationen auftauchen.


II. Erste Passage – Konditionierung als Komplexitätsmord

Gitta und Ralf Peyn haben mit FORMWELT ein linguistisches System entwickelt, das Kommunikation formal analysierbar macht. Peyns C2M (Complexity Capacity Model) unterscheidet sechs Stufen der Komplexitätsverarbeitung. Auf den unteren Stufen (K0/K1) operiert das Bewusstsein mit einfachen Kategorien, binären Unterscheidungen, linearen Kausalitäten. Auf den höheren Stufen werden Rückkopplungen sichtbar, Kontextabhängigkeiten, die Konstruiertheit der eigenen Kategorien.

Die Konditionierung, die Peyn beschreibt, ist systematische Komplexitätsreduktion. Bildungssysteme trainieren K0/K1-Denken: richtig/falsch, gut/böse, normal/pathologisch. Wer auf höherem Niveau prozessiert – wer die Grautöne sieht, die Widersprüche, die Schichten unter der Oberfläche –, erfährt systematische Delegitimierung. Das Komplexere wird als kompliziert abgetan, als überempfindlich, als störend.

Jean Liedloff hat diese Dynamik bis an ihren Ursprung zurückverfolgt. In den 1970er Jahren lebte sie bei den Yequana im venezolanischen Regenwald und beobachtete etwas Verstörendes: Die Kinder der Yequana weinten kaum, kannten keinen Trotz, wuchsen zu ungewöhnlich friedlichen und selbstbewussten Menschen heran. Liedloffs Erklärung: Die Yequana erfüllen das Kontinuum – jenes evolutionär geprägte Erwartungsmuster, mit dem jeder Säugling auf die Welt kommt. Ständiger Körperkontakt, Stillen nach Bedarf, Familienbett, Integration in die Aktivitäten der Erwachsenen.

Das westliche Säuglingsmanagement verletzt dieses Kontinuum systematisch: Trennung von der Mutter nach der Geburt, isoliertes Schlafen, Bedürfnisse des Kindes, die nach Zeitplan befriedigt werden. Das Ergebnis: Das Kind lernt von Anfang an, dass seine Signale nicht zählen, dass seine Wahrnehmung falsch ist. Das ist Gaslighting vom ersten Tag an – nicht durch böse Absicht, sondern durch systemische Praxis.


III. Zweite Passage – Epistemische Ungerechtigkeit

Miranda Fricker unterscheidet zwei Formen epistemischer Ungerechtigkeit. Testimonial injustice: Vorurteile führen dazu, dass die Aussagen einer Person weniger Glaubwürdigkeit erhalten als sie verdienen. Die Schwarze Frau, deren Schmerzensäußerungen im Krankenhaus ignoriert werden. Die Frau im Vorstandsmeeting, deren Vorschlag erst zählt, wenn ein männlicher Kollege ihn wiederholt.

Hermeneutische Ungerechtigkeit geht tiefer: Hier fehlen die Kategorien, um eine Erfahrung überhaupt zu artikulieren. Bevor der Begriff sexuelle Belästigung existierte, konnten Frauen ihre Erfahrungen am Arbeitsplatz kaum benennen. Die Erfahrung muss dann entweder geleugnet oder als pathologisch klassifiziert werden.

Die Bildungssysteme produzieren solche Lücken systematisch. Sie stellen Begriffe bereit für das, was im K0/K1-Rahmen liegt, und verweigern Begriffe für das, was ihn sprengt. Der Mensch, der subtile Machtverhältnisse spürt, aber nur das Wort Paranoia zur Verfügung hat.


IV. Dritte Passage – Psychopolitik

Byung-Chul Han beschreibt eine Machtform, die nicht mehr durch Verbote operiert, sondern durch Anreize. Die neoliberale Ordnung diszipliniert nicht – sie motiviert. Sie sagt Du kannst – und genau darin liegt ihre Gewalt.

Wo Foucault noch Körper diszipliniert sah, Institutionen der Einschließung – Gefängnisse, Kliniken, Schulen –, sieht Han Seelen mobilisiert, die keine Mauern mehr brauchen, weil sie ihre eigenen Gefängnisse mit sich tragen. Die Macht operiert durch Selbstoptimierung, durch die Internalisierung von Leistungsimperativen. Der Burnout ist nicht die Krankheit des Scheiterns – er ist die Krankheit des Erfolgs, der sich nie genügt.

Transparent werden die Dinge, wenn sie jede Negativität abstreifen.

Man bringt Menschen bei, ihre eigene Kritik als Krankheit zu erleben. Der Widerstand gegen die Konditionierung wird pathologisiert – als Depression, als Burnout, als Anpassungsstörung. Wer das Flackern sieht, braucht Therapie, nicht Revolution. Man wird zum Gaslighter seiner selbst, weil das System keine anderen Subjekte mehr produziert.


V. Drift III – Die daoistische Komplikation

Passage über das vermeintliche Gegenbild

Es wäre verlockend, in der daoistischen Tradition ein Gegenbild zum systemischen Gaslighting zu suchen – eine Weisheit des Entzugs, des Nicht-Mitspielens. Diese Lesart führt in die Irre.

Das Daodejing ist kein Befreiungstext. Es ist ein altertümliches Brevier für Regierende. Der Weise, von dem es spricht, ist der Herrscher. Wenn der Weise regiert, leert er die Köpfe und füllt die Bäuche, schwächt die Neigungen und stärkt die Knochen. Sein beständiges Ziel ist es, das Volk ohne Wissen und ohne Begehren zu halten. Wu Wei ist hier Regierungstechnik. Die Kritik der Konditionierung dient einer anderen Konditionierung: Das Volk soll unwissend und zufrieden sein, damit es nicht rebelliert.

Das Zhuangzi operiert anders, aber nicht unbedingt subversiver. Der Schmetterlingstraum destabilisiert Gewissheit – aber für wen? Für den Gelehrten, der sich solche Fragen leisten kann. Die Bäuerin auf dem Feld hat keine Zeit für Schmetterlingsträume.

Kapitel 20 des Daodejing beschreibt die Einsamkeit dessen, der anders wahrnimmt:

Die gewöhnlichen Menschen sind strahlend und glänzend, / nur ich allein bin trüb und dunkel. / Die gewöhnlichen Menschen sind prüfend und scharf, / nur ich allein bin bedrückt und verschlossen. / So wogend wie das Meer, / wie wehend, als wollte es nicht aufhören. / Die Menschen alle haben, wozu sie taugen, / nur ich allein bin störrisch und bäurisch. / Ich allein bin anders als die anderen Menschen / und halte wert die nährende Mutter. (Manesse-Ausgabe)

Diese Passage lässt sich als Beschreibung des Gaslighteten lesen. Aber wer spricht? Der Herrscher-Weise, der sich von den gewöhnlichen Menschen abhebt. Die Einsamkeit ist aristokratisch, nicht solidarisch.

Das Daodejing kritisiert die konfuzianischen Tugenden als künstlich – und installiert dafür die natürliche Ordnung des Dao. Die Ersetzung einer Konditionierung durch eine andere, die sich als Nicht-Konditionierung ausgibt.


VI. Drift IV – Dao(tum): Die produktive Misslektüre

Passage über den Gebrauchswert alter Texte

Die historische Kritik erschöpft die Möglichkeiten nicht. Was passiert, wenn wir die Schriften nicht konservativ auslegen – also nicht fragen, was sie meinten –, sondern als Werkzeugkasten für gelingendes Leben behandeln? Helfen sie, Komplexität als Komplexität zu behandeln? Schlagen sie Schneisen in den Denkraum ökonomischer Verwertung?

Wolf-Dieter Storl unterscheidet Schamanismus von Schamanentum: das eine eine ideologische Verflachung, das andere eine lebendige Überlieferung. Analog ließe sich Daoismus von Dao(tum) unterscheiden. Daoismus: institutionalisierte Religion, esoterische Überhöhung, Wellness-Vereinnahmung. Dao(tum): produktive Aneignung für gegenwärtige Fragen. Das Suffix signalisiert Existenzweise, nicht Glaubenssystem.

Marx las Ricardo gegen den Strich. Feministische Theologinnen lesen die Bibel gegen den Strich. Die Texte sind kontaminiert – und möglicherweise unverzichtbar.

Die daoistische Sprachkritik – Namen sind nicht Dinge, Kategorien verfehlen – lässt sich als Komplexitätsöffnung lesen. Die Warnung, dass das aussprechbare Dao nicht das ewige Dao ist, wird dann zum Hinweis: Was du für Wirklichkeit hältst, ist ein Modell, ein Konstrukt.

Zhuangzis Perspektivenwechsel trainieren Komplexitätsfähigkeit. Der Frosch im Brunnen, der den Ozean nicht fassen kann. Und die Elritzen im Hao-Fluss: Zhuangzi und Huizi stehen auf einer Brücke, Zhuangzi sagt, die Fische seien fröhlich. Huizi fragt: Du bist kein Fisch, woher weißt du von der Freude der Fische? Zhuangzi antwortet: Du bist nicht ich, woher weißt du, dass ich nicht weiß? Keine Auflösung, nur Öffnung. Die Frage nach den Grenzen des Wissens wird zur Frage nach den Grenzen der Frage.

Wu Wei – oft als Nichtstun missverstanden – meint Handeln ohne Widerstand gegen die Komplexität der Situation. Im Taijiquan gibt es dafür einen verkörperten Begriff: Song, Entspannung. Nicht Schlaffheit, sondern optimale Spannungsverteilung. Der Körper, der sich der Schwerkraft anvertraut, ohne zusammenzufallen.

Das Daodejing kritisiert Akkumulation: Wer auf Zehenspitzen steht, steht nicht fest. Mehr vom Selben führt nicht zu Mehr. Die neoliberale Selbstoptimierung ist Zehenspitzenstand als Dauerzustand.

Ziran (自然), Selbst-So – Gegenmodell zu extrinsischer Motivation. Was wäre Handeln, das sich nicht rechtfertigen muss? Nicht Handeln für etwas – für den Lebenslauf, für die Rendite –, sondern Handeln, das in sich ruht.

Pu (樸), der ungeschnitzte Block – Widerstand gegen Formatierung. Der Verwertungszwang verlangt Spezialisierung, Personal Branding. Pu sagt: Das Potenzial liegt im Nicht-Festgelegten. Die negative Epistemologie – Lernen durch Entlernen – untergräbt den Akkumulationsimperativ. Keine Zertifikate, keine Credits, keine messbaren Outcomes.

Die Gefahr bleibt: Auch diese Aneignung kann zur neuen Konditionierung werden. Die Achtsamkeitsindustrie verkauft Wu Wei als Produktivitätstechnik. Die Frage wäre dann nicht: Wie bleiben wir rein? Sondern: Wie arbeiten wir mit kontaminierten Werkzeugen?


VII. Verdichtungszone – Was auftaucht

Formation 1: Die systematische Produktion hermeneutischer Lücken Die Bildungssysteme lehren nicht nur – sie verlernen systematisch. Sie stellen Kategorien für das bereit, was im Rahmen liegt, und verweigern Kategorien für das, was ihn sprengt.

Formation 2: Die Internalisierung als Vollendung Das neoliberale Subjekt braucht keinen externen Manipulator mehr – es hat die Stimme internalisiert. Das System produziert keine Opfer, sondern Komplizen.

Formation 3: Neurodivergenz als Systemsensor Was als Störung pathologisiert wird, ist oft erhöhte Registrierung dessen, was das System nicht sehen will. Der neurodiverse Mensch ist nicht der Gestörte. Er ist der Seismograph – und wird als defekt behandelt, damit das System nicht als defekt erscheint.

Formation 4: Kontaminierte Werkzeuge Die Reinheit ist die Illusion. Alte Texte tragen ihre Geschichte mit sich – aber sie lassen sich gegen den Strich lesen. Der Gebrauchswert zeigt sich in der Praxis: Helfen sie, Komplexität zu halten? Öffnen sie Denkräume, die die Verwertungslogik schließt?


VIII. Austritt – Die offene Frage

Das Dérive endet mit einer Frage, nicht mit einer Antwort.

Wenn systemisches Gaslighting Systemfunktion ist, wenn die Konditionierung so tief greift, dass sie sich selbst vollzieht, wenn selbst die Kritik zur neuen Konditionierung werden kann – was bleibt?

Die Formationen, die durch das Dérive sichtbar wurden, waren vorher nicht denkbar. Das Gaslighting operiert durch Unsichtbarmachung. Das Denken operiert durch Sichtbarmachung. Jede Formation, die auftaucht, ist ein kleiner Riss in der Normalität.

Die Frage ist nicht: Wie entkommen wir dem System? Die Frage ist: Wie bauen wir Strukturen, die das Sehen ermöglichen?


Das Dérive bleibt offen. Andere Passagen hätten andere Formationen erzeugt.


Quellen und Resonanzfelder

  • Gitta & Ralf Peyn: FORMWELT, C2M-Modell (formwelt.io)
  • Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück (1975/dt. 1980)
  • Miranda Fricker: Epistemic Injustice (2007)
  • Byung-Chul Han: Psychopolitik (2014), Transparenzgesellschaft (2012)
  • Daodejing (Manesse-Ausgabe); Zhuangzi (Übers. Viktor Kalinke)
  • Wolf-Dieter Storl: Zum Begriff Schamanentum

Von sab

Sascha Büttner
Seit mehr als 25 Jahren übt Sascha Büttner die Profession des Coaches sowie des Trainers in der Arbeitswelt aus, ist Taijiquan, Tai Chi und Qigong praktizierender und meditiert seit seinem 14. Lebensjahr. Zudem betätigt er sich als Fotograf, Herausgeber und Autor. Zeit seines Lebens folgt er dem Tao.
Sascha Büttner gründete und betreibt das metalabor, einen der kleinsten, deutschsprachigen Think Tanks.